Zwischen den Rillen: Noten im Reißwolf
Neue Russen, alte Ressourcen: Sergey Starostin und das Terem Quartet
Was ist bloß mit Russland los? Vor zehn Jahren, als der Eiserne Vorhang fiel, öffnete sich der Blick auf eine bis dahin abgeschottete Musikszene. Doch nicht der russische Underground wurde in die Welt hinausgetragen, vielmehr hielt die zweite Garnitur des Westens mit wehenden Fahnen Einzug zwischen Kreml und Kirgisien. Die Scorpions auf dem Roten Platz, wie sie „Winds of Change“ trällern - demütigender kann der Sieg des Kapitalismus mit westlichem Anlitz eigentlich nicht ausfallen.
Inzwischen hat auch Russland längst seine turbokommerzielle Musikindustrie, mit eigenem MTV und einem Massenausstoß an Billigpop und Retortenstars. So etwas ist wenig vorzeigbar und kaum exportfähig, deswegen bekommt man davon diesseits des Urals auch kaum etwas mit. Doch es gibt ja noch, als letzte Reserve sozusagen, die Ressource der Folklore. Und da sieht die Bilanz schon ein bisschen besser aus.
Im Bereich der gehobenen Unterhaltung gibt da das Terem Quartet den Ton an. Das Ensemble aus Sankt Petersburg gilt als Aushängeschild der örtlichen Avantgardeszene und agitiert an der Schnittstelle von Klassik, Folklore und moderner Musik. Einen Namen hat man sich durch den respektlosen Umgang mit alten Meistern gemacht. Nach eigenwilligen Interpretationen von Klassik-schlagern wie Mozarts „Nachtmusik“ legt das Quartett schon einmal einen Flohwalzer ein, horribile dictu. Eine Spur Salonbolschewismus schwingt bei ihnen stets mit.
Auf ihrem neuen, nunmehr dritten Album gibt sich das Terem Quartet geheimnisvoll. „Nein, Russland kann nicht mit dem Verstand erfasst werden“, warnt der Titel, den das Inhaltsverzeichnis des Albums jedoch ins Absurde zieht. Im Zentrum des Werks steht ein Streifzug durch sieben Standardtänze, die wie die Bilder einer Ausstellung präsentiert werden. Die Etappen heißen „Sounds like a Twist“, „Must be a Foxtrot“ oder „Most propably a Charleston“. Mit Bass-Balalaika und Domra, einer bauchigen Langhalslaute, unterzieht das Quartett die Vorlagen einem Akt der augenzwinkernden Russifizierung. Witzig und virtuos wirkt das so, als hätten sie ihre Notenblätter vor dem Spielen noch einmal kurz durch den Reißwolf gedreht, um jeden Zug der Wiedererkennbarkeit zu eleminieren. Mit gezielten Tempovariationen erzeugen sie Dynamik und lassen die Melodien wie an einer Gummischnur entlang zurren. Und wenn es doch einmal bedrohlich zu schunkeln beginnt, setzen sie sofort mit kühler Präzision die Axt an.
Etwas ernster ist es Sergey Starostin um sein Tun. Der Musiker, ein Absolvent des Moskauer Konservatoriums, hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur daheim, sondern auch im Ausland für die russische Volksmusik zu werben. Russische Folklore meint dabei natürlich nicht polternde Donkosakenchöre, die hierzulande zur Rentnerbeglückung ins Rennen geschickt werden, sondern den noch längst nicht gänzlich erschlossenen Reichtum regionaler Traditionen. In Russland bemüht sich Starostin in Radiosendungen und Fernsehshows um Aufklärung über das weitgehend unbekannte Erbe der diversen ethnischer Musiken. Sein Album „Farlanders“ schöpft aus dem Fundus dieser Folklore und verbindet diese mit einem angerockten Sound. Für dieses Projekt hat sich der Klarinettist mit (Rock-)Sängerin Inna Zehlannaya zusammengetan, die in ihrem Gesang die schamanistisch geprägten Vokalstile Sibiriens zitiert und an die samische Sängerin Mari Boine erinnert. Von Wiegenliedern und Volksweisen reicht das Material, das von Starostin mit Liebe zum tönenden Detail aufbereitet wurde. Mal spannungsreich, mal angenehm einlullend, verdüdeln sich manche Stücke allerdings zuweilen im selbstverliebten Irgendwo. Bei allem Groove ist dem Ganzen eine gewisse intellektuelle Schwere eigen, aber keine falsche Sentimentalität. Mag sein, dass Russland nicht mit dem Verstand erfasst werden kann. Aber mit den Ohren kommt man schon ein gutes Stück weit.
Daniel Bax Terem Quartet: No, Russia cannot be perceived by wit (Intuition) Inna Zhelannaya & Sergey Starostin: Farlanders (Jaro)
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