Zwischen Pascha und Parkhaus

Viele Einzelfälle aus Beton und Glas sollen St. Pauli verändern. Ein Entwicklungskonzept für den Stadtteil aber fehlt. Eine GALierin will jetzt wissen, warum  ■ Von Sven-Michael Veit

Heike Sudmann setzt ihr strahlendstes Lächeln auf. Sie käme gerade zufällig hier vorbei mit ein paar JournalistInnen, erklärt die stadtentwicklungspolitische Sprecherin der GAL-Bürgerschaftsfraktion, und ob es wohl möglich sei, mal eben einen Blick in die Präsentationsräume zu werfen? Nach kurzem Zögern bittet der leicht verunsicherte Manager herein ins Erdgeschoß des Niebuhr-Hochhauses, in die Bitterwolf-Liegenschaften.

Von deren Wänden leuchtet eine Vision. Bunte Bilder, Computersimulationen und Architektenpläne künden von „grenzenloser Freiheit“, die hier Einzug halten soll. Ein „einzigartiges Projekt der Erlebnisgastronomie“ soll entstehen in dem 60er-Jahre-Hochhaus an der Reeperbahn 151-157. Der Nürnberger Investor Georg Bitterwolf und sein Adlatus Hermann Müller, der sich als „erfahrener Gastronom und Unternehmensberater“ ausgibt, wollen für 200 Millionen Mark das Niebuhr-Haus zur „Kleinen Freiheit“ mutieren lassen: 200 Betriebe aus Gastronomie, Entertainment und Kultur, eine Großdisco und ein Varieté-Theater sollen ab Silvester 2001 zu einem 20.000 Quadratmeter großen „einmaligen Freizeit- und Vergnügungszentrum“ aus Beton und Glas verschmelzen. Und die 500 Quadratmeter große Fassade wird mit einer blinkenden, glitzernden und „weltgrößten“ Videoma-trixwand zum „attraktivsten Werbeblickfang der Stadt“.

Weder an diesem Projekt findet Heike Sudmann sonderlichen Gefallen noch an dem „Pascha 2“ gegenüber, das Bitterwolf und Müller bereits realisiert haben. In den Räumen des ehemaligen Hotels Interrast betreiben sie seit zwei Monaten den größten Puff der Stadt nach dem Vorbild des Kölner „Pascha“. Mit jenem größten Bordell Europas haben die beiden offenbar so viel Geld gemacht, daß sie sich nun der Eroberung St. Paulis widmen.

„Das sind die größten, aber dennoch typische Einzelfälle, die St. Pauli verändern werden“, sagt Sudmann. Doch in welche Richtung und zu wessen Nutzen, wisse niemand. Um das zu ändern, führt sie erstens JournalistInnen über die Reeperbahn und deren Nebenstraßen und zeigt ihnen all die einzelnen Vorhaben, die geplant oder bereits im Bau sind, „ohne daß es ein Konzept für die stadtplanerische Entwicklung des Stadtteils gibt“.

Und zweitens richtet sie am heutigen Montag eine Große Anfrage an den Senat, deren Beantwortung von einer Reihe von SachbearbeiterInnen in Bau-, Wirtschafts- und Stadtentwicklungsbehörde sowie im Bezirksamt Mitte viel Fleißarbeit erfordern wird. Über fast zwei Dutzend Projekte begehrt die Grüne detaillierteste Auskünfte, um „endlich mal einen Überblick zu bekommen über den Bauboom ohne Ende“ zwischen Nobis- und Millerntor.

Welche und wieviele Flächen für Büros, Wohnungen und Gastronomie sich in welchem Planungsstadium befinden, möchte sie genauso wissen wie zum Beispiel in der sechsteiligen 3. Frage Auskunft erhalten über „die jeweilige Zahl der geplanten a) Bruttogeschoßfläche, b) Geschoßhöhe, c) Anzahl von Sitzplätzen in Kinos und Restaurants, d) Stellplätze und der rein rechnerisch notwendigen Zahl von Stellplätzen, e) Fläche (qm), die neu versiegelt wird, f) neue Arbeitsplätze (Vollzeit, Teilzeit ...)“.

Die Rechtsgrundlagen für jedes einzelne Projekt („Bebauungsplan, Baustufenplan, Durchführungsplan?“) will sie genannt bekommen, Ausnahmen und Befreiungen vom Bau- und Planungsrecht in Erfahrung bringen, die Prüfkriterien für die Standortverträglichkeit wissen, und die Besitz- und Eigentumsverhältnisse („städtische Grundstücke, Erbbaurechte, Anhandgabeverfahren?“) hätte sie auch gern offengelegt.

Das alles, weiß Heike Sudmann, ist unabdingbare Voraussetzung, „um den Planungsdschungel zu lichten“, der den Stadtteil überwuchert. Es handele sich um „Grundlagenforschung, die lange überfällig“ sei, ohne die aber ein stadtentwicklungspolitisches Konzept für das Viertel am Hafen nicht erstellt werden kann. Und das ist bitter nötig, denn St. Pauli ist nicht nur die Amüsiermeile der Hansestadt, die jedes Jahr etwa 30 Millionen BesucherInnen anlockt, dreimal soviel wie Europas größter Freizeitpark Eurodisney bei Paris.

St. Pauli ist auch ein Wohnquartier für rund 30.000 Menschen, von denen ein Drittel Nicht-Deutsche sind, jeder fünfte von Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe lebt und denen mit dem Hafenkrankenhaus mehr genommen wurde als ein x-beliebiger überdachter Verbandsplatz. Zur Wahlurne bei den Bürgerschafts- und den Bundestagswahlen '97 und '98 schleppte sich denn auch nur noch jeder zweite wahlberechtigte St. Paulianer.

Und über die Köpfe dieser Menschen hinweg, befürchtet Sudmann, wird der Stadtteil zugebaut und umgebaut von denen mit dem großen Geld. Von Investoren, die ein gigantomanes Bürohochhaus an den Millerntorplatz geklotzt haben, das zu mehr als der Hälfte leersteht. Die eines der heißesten Spekulationsobjekte der Hansestadt, die „Heiße Ecke“ an der Reeperbahn/Ecke Hein-Hoyer-Straße, nach Informationen der Grünen für „geschätzte 10.000 Mark pro Quadratmeter“ kaufen, um dort „was auch immer hinzusetzen, aber bestimmt keine preisgünstigen Wohnungen“.

Zugebaut und umgebaut von Leuten, die ein erhaltenswürdiges Wohnhaus am Hamburger Berg 3 kaufen, einen Tag bevor der Senat es zum Teil des Sanierungsgebietes erklären wollte. Jetzt wird das Haus der Tiefgarageneinfahrt für ein benachbartes Projekt weichen, dessen Erdgeschoß das Restaurant mit dem großen „M“ zur Erweiterung seines Fleischklops-Imperiums nutzen will.

Und von Leuten wie Bitterwolf und Müller, die unter der „Kleinen Freiheit“ eine fünfgeschossige Tiefgarage in den Boden rammen wollen, in die sich, da ist GALierin Sudmann sicher, „keine Frau wagen wird“. Und die zudem mit gerade mal 300 Stellplätzen nicht ansatzweise die Verkehrsprobleme lösen wird, die der Riesenbau selbst hervorruft. Rund um die Uhr nämlich sollen etwa 20.000 Menschen pro Tag und Nacht ihr Geld abliefern in diesem laut Eigenwerbung „kühnen Projekt“, das „der grenzenlosen Freiheit des Unternehmertums gewidmet ist“.

„Eben darum“, sagt Heike Sudmann, „will ich all das wissen.“