Zweiter Anlauf im Prozess Jonny K.: Verantwortung abgelehnt
Angeklagte, die sich gegenseitig entlasten. Zeugen, die sich vage erinnern. Die Klärung des Todes von Jonny K. bleibt schwierig.
BERLIN taz | Bild Nummer 63. Anhand einer Fotomappe, die auf dem Richtertisch liegt, erläutert der medizinische Gutachter den Obduktionsbefund. „Und dann haben wir das Schädeldach abgehoben“, sagt er. „Unter der weichen Hirnhaut sieht man die Einblutungen.“ Im vollbesetzten Gerichtsaal ist es mucksmäuschenstill. Der 19-jährige Onur U. räkelt sich auf seinem Stuhl. Auch die anderen Männer auf der Anklagebank wirken so, als ginge sie der Vortrag nichts an.
Der 20-jährige Jonny K. starb am 15. Oktober 2012 an den Folgen einer Prügelattacke auf dem Berliner Alexanderplatz. Der Fall hat weit über die Stadt hinaus Aufsehen erregt. Seit Anfang Juni bemüht sich die 9. Jugendkammer des Landgerichts Berlin, die Todesumstände aufzuklären. Angeklagt sind sechs junge Männer im Alter von 19 bis 24 Jahren. Der frühere Amateurboxer Onur U. ist einer davon. Körperverletzung mit Todesfolge, gefährliche Körperverletzung und Beteiligung an einer Schlägerei lauten die Vorwürfe.
Jonny K. war ein in Berlin geborener Thaideutscher. Ein großer schlanker Mann, den seine Freunde als ausgesprochen friedliebend bezeichnen, ist Opfer grundloser Gewalt geworden. Seine 28-jährige Schwester Tina K. hat nach seinem Tod eine Kampagne gegen Gewalt initiiert. Mit ihrer ständigen Präsenz in den Medien hat sie die Erinnerung an den Fall wachgehalten.
In Berlin gibt es viele solcher Schlägereien, manche sind deutlich brutaler. In den meisten Fällen enden sie trotzdem so, dass das Opfer hinterher wieder aufsteht. Eine Verkettung tragischer Umstände hat dazu beigetragen, dass Jonny K. nicht überlebt hat.
Ausgedehnte Blutungen im Gehirn hätten zum Tod von Jonny K. geführt, sagt der Rechtsmediziner. Durch was diese ausgelöst worden seien, könne er nicht sagen. Infrage kämen Schläge, Fußtritte oder ein ungebremster Sturz mit dem Kopf aufs Pflaster.
Einzelne Schläge und Tritte eingeräumt
Die Angeklagten sind gebürtige Berliner mit türkischen und griechischen Pässen. Sie haben einzelne Schläge und Tritte eingeräumt, Sie sagen, es täte ihnen leid. Verantwortung für Jonnys Tod will keiner übernehmen.
Für große Teile der Medien ist Onur U. von Beginn an der Haupttäter. Polizei und Staatsanwaltschaft haben das nie behauptet. Onur U. ist circa 1,80 Meter groß und kräftig gebaut. Sein äußeres Erscheinungsbild ist gepflegt. Er hat einen Dreitagebart, die kurzen schwarzen Haare sind gegelt. Vor Gericht trägt er meistens ein Hemd, einmal hat er ein T-Shirt mit der Aufschrift „Immigrant“ an. Dass sich die Medien auf ihn eingeschossen haben, liegt daran, dass er sich nach der Prügelattacke in die Türkei abgesetzt hatte. Erst Ende März 2013 hat er sich der Polizei gestellt. Seither sitzt er in Untersuchungshaft.
Onur U. boxt seit seiner Kindheit, ein Onkel war Europameister. Als Jugendlicher gewann Onur dreimal hintereinander in seiner Gewichtsklasse die Berliner Boxmeisterschaft. Eine Kapselverletzung an der Hand zwang ihn zum Aufhören, sagt er vor Gericht.
Wie die übrigen Angeklagten wohnte Onur U. zum Tatzeitpunkt noch zu Hause. Wie die anderen Familien leben auch er und seine Eltern von Hartz IV.
Alle Eltern sitzen jeden Tag im Prozess. Mit der Presse wollen sie nicht sprechen. Die Kommentare, die Onur U.s Mutter bei manchen Zeugenaussagen abgibt, lassen darauf schließen, dass sie findet, ihrem Sohn widerfährt bitteres Unrecht.
Die Trennung von seiner Familie, insbesondere von seiner Mutter, habe ihn in der Türkei „wahnsinnig gemacht“, bekennt Onur U. vor Gericht. Auch zu seinem Vater scheint der 19-Jährige eine nicht alterskonforme Bindung zu haben. „Mein Vater“, erzählt Onur an anderer Stelle „schläft nachts nicht, bevor ich nach Hause komme“.
Es ist 4 Uhr morgens, als Jonny K. und seine drei Begleiter nach dem Besuch einer Bar auf dem Alexanderplatz auf die späteren Angeklagten treffen. Jonny ist mit seinem afrodeutschen Freund Gerhardt C. und den gebürtigen Vietnamesen Lien N. und Ngoc N. unterwegs. Gerhardt trägt Ngoc huckepack, weil der so betrunken ist, dass er nicht mehr laufen kann. Was dann geschieht, dauert höchstens eine Minute. Die sechs Angeklagten haben in einer anderen Bar gefeiert. Alle haben viel Alkohol getrunken. Beide Gruppen haben sich nie zuvor gesehen.
Tritte gegen den Kopf
Vor einem Eiscafé versucht Gerhardt, den Betrunkenen auf einem Stuhl abzuladen. Lien rennt los, um ein Taxi zu holen. In dem Moment, meint der Staatsanwalt, kommt Onur von hinten und zieht den Stuhl weg. Gerhardt und Ngoc stürzen zu Boden. Mit erhobenen Armen und dem Ausruf „Ey“ sei Jonny an Onur herangetreten, ohne auch nur ansatzweise tätlich zu werden, heißt es in der Anklageschrift. Onur habe Jonny daraufhin mindestens einen wuchtigen Faustschlag ins Gesicht versetzt. Auch die anderen Angeklagten hätten Jonny mit Schlägen und Tritten gegen Kopf und Körper angegriffen.
Jonny K. geht zu Boden, schlägt mit dem Kopf auf dem Pflaster auf und wird bewusstlos. Aber selbst dann sei auf ihn noch eingestampft und eingetreten worden, sagen Zeugen.
Bei den Ermittlungen macht der Polizei zu schaffen, dass es von unbeteiligten Zeugen nur sehr unpräzise Aussagen gibt, insbesondere zum Beginn der Prügelei. Auch die Medien haben mit ihrer Berichterstattung erhebliche Verwirrung gestiftet. Insgesamt sei er bei der Leichenschau überrascht gewesen, wie wenige äußere Verletzungen Jonny K. hatte, sagt der Gutachter. Nach den Presseberichten hätte er einen schlimmer zugerichteten Körper erwartet. Bei der Obduktion der Leiche habe er vier Hinweise auf Gewalteinwirkung gefunden: Verletzungen im Bereich von Schläfe und Mund sowie in der rechten Schädelregion und am Hinterkopf.
Eigentlich hatte das Verfahren schon im Mai begonnen. Wegen der Besorgnis der Befangenheit eines Schöffen bricht der Vorsitzende Richter Helmut Schweckendieck den Prozess am vierten Verhandlungstag ab. Eine Springer-Gazette hatte eine große Titelgeschichte über den Laienrichter gebracht und diesen mit einer abfälligen Bemerkung über die Verteidiger zitiert.
Zurück auf Los. Als der Prozess am 6. Juni neu beginnt, wiederholt der Vorsitzende Schweckendieck seine an die über 100 Menschen im Saal gerichtete Bitte, verantwortungsvoll mit diesem Prozess umzugehen. „Das Verfahren wird hier im Gericht geführt und nicht in den Medien.“
Der 28-jährige Gerhardt C. – der als Hauptbelastungszeuge der Staatsanwaltschaft schon im ersten Verfahren gehört worden war – muss ein zweites Mal aussagen. Es tut ihm nicht gut. Gerhardt ist seit vielen Jahren der Lebensgefährte von Tina K., Jonnys älterer Schwester. Beide sind im Prozess Nebenkläger. Sie als Angehörige. Er, weil er bei der Schlägerei erheblich von Onur U. verletzt worden ist. Das ist unstreitig, Onur U. hat es vor Gericht zugegeben. Mit den Fäusten hat er Gerhardt C. so massiv bearbeitet, dass dieser einen Jochbeinbruch, einen Augenhöhlenbruch und einen Bruch der linken Handwurzel davontrug.
Gerhardt C. ist von dem Geschehen schwer gezeichnet. Gramgebeugt sitzt der 1,82 Meter große Basketballspieler auf seinem Stuhl und fixiert mit gerunzelter Stirn die Tischplatte. Der Afrodeutsche sieht aus, als sei ihm speiübel. Das Schlimmste, sagt er, seien die Selbstvorwürfe. „Jonny war mein kleiner Bruder. Ich hätte ihn beschützen müssen“.
Wie im Kontrast dazu blühen die Angeklagten zunehmend auf. Memet E., 20, war die ganze Zeit frei. Seit der erste Prozess geplatzt ist, genießen auch Osman A., 19, Melih Y., 21, und Hüseyin I.-O., 21, Haftverschonung. In den Verhandlungspausen sieht man sie manchmal auf dem Gang stehen und scherzen. Außer Onur U. ist nur Bilal K., 24, in Haft.
Im ersten Prozessanlauf ließ Onur U. seinen Anwalt für sich sprechen. Jetzt spricht er selbst. Von Verhandlungstag zu zu Verhandlungstag wächst sein Selbstbewusstsein. „Jonnys Tod lässt mich nicht kalt“, sagt Onur. „Aber ich bin nur bereit, Verantwortung für etwas zu übernehmen, was ich auch gemacht habe.“ Er habe den „bescheuerten Joke“ mit dem Stuhl gemacht, das sei richtig, gibt Onur zu. „Das war der Auslöser.“ Aber den Jonny, den habe er überhaupt nicht angefasst. Einige der anderen Angeklagten bestätigen das.
Lediglich den Gerhardt C. habe er verdroschen, sagt Onur U. 10 bis 12 Faustschläge auf den am Boden liegenden C. gibt er zu.
„Der Aggressivste war der Stuhlwegzieher“, sagt dagegen Gerhardt C. im Zeugenstand. Schon bei seiner ersten polizeilichen Vernehmung hat Gerhardt Onur U. massiv belastet, ohne seinen Namen zu kennen. Derjenige, der später auf ihn eingeschlagen habe, habe Jonny den ersten Schlag verpasst. Bei anderen polizeilichen Vernehmungen tauchten bei Gerhardt allerdings Unsicherheiten und Erinnerungslücken auf. Der Umstand, dass er sich nun vor Gericht ganz sicher ist und über bisher nicht dagewesenes Detailwissen verfügt, macht stutzig.
Niedrige Reizschwelle
Die Verteidiger vermuten, dass der Zeuge als Nebenkläger die Akten gelesen hat. C. verneint das. „Ich kann nicht ignorieren, dass Sie früher öfter unsicher waren“, schaltet sich der Vorsitzende Richter schließlich ein. „Wie das zu bewerten ist, muss sorgsam überlegt sein.“
Memet E. ist der einzige Angeklagte mit Realschulabschluss, Onur U. hat den erweiterten Hauptschulabschluss. Nach Zukunftsplänen befragt, kommen nur dürre Antworten. „Man kann auch jeden Tag bis 12 Uhr schlafen und dann die Mutter nerven“, sagt der Richter süffisant.
Onur U. ist der einzige mehrfach Vorbestrafte. 2011 hatte er seinen Vater beim Eintreiben einer Geldforderung begleitet und dem Schuldner einen Schlag verpasst. 2012 war er mit dem Smart seiner Mutter unterwegs. Weil Stau war, wich er mit dem Auto auf den Fahrradweg aus und kam in Konflikt mit einem Radkurier. Laut Urteil hat er den Kurier gegen eine Hauswand gedrückt und ihm mit voller Wucht die Faust ins Gesicht geschlagen.
„Sie scheinen leicht reizbar zu sein“, bemerkt Oberstaatsanwalt Michael von Hagen. Onur U. verneint. „Ich habe den Kurier nicht geschlagen.“ Ob er damit sagen wolle, dass das Urteil falsch sei, hakt von Hagen nach. „Das würde ich nicht unterstellen. Aber so, wie es da steht, ist es nicht richtig“, erwidert Onur U. eine Spur zu selbstbewusst.
Die Linie der Verteidigung lautet: Keiner der Angeklagten kann für Jonny K.s Tod haftbar gemacht werden, weil unklar ist, wer wann wie geschlagen hat und welche Verletzung die Hirnblutungen ausgelöst hat. Gesetzt den Fall, es wäre so, käme immer noch eine Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung und Beteiligung an einer Schlägerei in Betracht. Sieben Verhandlungstage stehen noch aus. Mit dem Urteil wird im August gerechnet. 3 bis 4 Jahre Haft könnten wohl herauskommen.
Bild Nummer 65. „Das Blut unter der weichen Hirnhaut ist gleichmäßig verteilt.“ Der Vortrag des Rechtsmediziners zieht sich in die Länge. Im Saal ist es stickig. Onur U. gähnt.
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