Zweischneidiges Schwert Ehrenamt: Gutes tun
Wenn Politiker in der kommenden Woche wieder lobende Worte für "bürgerliches Engagement" finden, wird vielen Linken unbehaglich zumute. Ist es nicht der Sozialstaat, der diese Aufgaben übernehmen müsste?
BREMEN taz | Das, was wir heute Ehrenamt nennen, greift da ein, wo der Sozialstaat Lücken hat. Das ist eigentlich klar. Die Frage ist: Verdeckt es sie oder heilt es sie? Und ist das nicht doch verkehrt? Denn jeder gute Alt-Linke weiß sofort, auch wenn er dabei mitmacht: Das ist eigentlich nicht richtig so. Denn indem die karitativen Tätigkeiten die Defizite des Staats überdecken, stabilisieren sie ihn, verhindern den Kollaps des Systems, den Zusammenbruch, verzögern – die Erlösung. Schändlich.
„Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht“, das sagt doch Bert Brechts Heilige Johanna der Schlachthöfe ganz am Ende des Stücks, das ist doch ihre große, deprimierende Einsicht „und“ – Obacht, jetzt wird’s richtig böse: „Es helfen nur Menschen, wo Menschen sind.“
Zwar klingt der Satz, als stamme er aus einer Sonntagsrede. Doch steht er eben nach dem Scheitern der Charity-Mission, er denunziert sie – und er bedeutet, dass es jetzt losgehen muss, mit der hilfreichen Gewalt, und „mit dem Kopf auf das Pflaster schlagen: Bis er verreckt ist“, soll man denjenigen, der sie hemmt, etwa durch sein wohltätiges Engagement.
Aber umgekehrt ist in der recht bequem grundversorgten westlichen Welt die Idee der Revolution komplett unsexy. Und einem Linkssein, das den Glauben an die Revolution verloren hat, bleibt nur übrig zu motzen – oder sich als Engagement im Ehrenamt zu artikulieren. Naja, manchmal auch beides zugleich.
Jedenfalls bringt man sich dann doch ein in diesen Reparaturbetrieb, den man eigentlich verdammt, weil’s ja um Leben geht oder die Gesundheit oder um Existenzen: Es gibt die ehrenamtliche Schuldnerberatung, die ehrenamtliche Essensausgabe, die ehrenamtliche Patientenberatung, die ehrenamtliche Asylbewerberhilfe, und es gibt sie gerade im protestantisch geprägten Gegenden wie dem Norden Deutschlands, auf dem Gebiet des ehemaligen Zollvereins, dem Kerngebiet der Hanse.
Es gibt sie da, wo linke Mehrheiten regieren: Drei von vier Niedersachsen sind in Vereinen und anderen Verbänden organisiert, und mehr als jeder zweite von denen hat dort auch eine Funktion übernommen – immerhin 41 Prozent der Bevölkerung, höchste Engagement-Quote Deutschlands. Schleswig-Holstein liegt laut Freiwilligen-Survey mit 40 Prozent nur knapp dahinter. Bei den Stadtstaaten führt Bremen vor Hamburg vor Berlin.
Letztlich ist es das, was bleibt, vom Willen, die Gesellschaft zu verändern, vom Sturm und vom Drang – die ehrenamtliche Betätigung, die auch als Engagement beschrieben wird, noch immer meistens im Verein, und es ist ja auch nicht ganz ohne Risiko:
Ich zum Beispiel bin neulich ins Wasser gefallen beim Schwimmverein-Subbotnik, es ging ums Heckenschneiden, die wächst wild und wuchernd am Rand des Naturbeckens, und die Stelle war abschüssig, und die Schere etwas zu kurz, oder komm ich noch an den Ast da und den Zweig und plumps!, mein Gott, es war schon Herbst und scheißekalt das Wasser. Ich hätte mir sonstwas holen können.
War dann aber eigentlich nicht schlimm, haben wir halt drüber gelacht, und es ist vielleicht ohnehin ganz falsch, Engagement bloß als Rückzugsgefecht zu deuten, als Eindämmung und Kanalisierung statt als Medium gestalterischer Energien. Also: als Machtfaktor, wie ihn Emmett D. Carson selbstbewusst für die weltweit am schnellsten wachsende, milliardenschwere Silicon-Valley-Bürgerstiftung reklamiert, deren Boss er ist:
„It is up to each of us to help create a new beginning“, schreibt er 2012 in seinem Kurz-Aufsatz „Die Macht des Gebens“, es liegt an jedem von uns, einen neuen Anfang zu schaffen angesichts der grassierenden Armut, der gegenüber der Staat so hilflos wirkt: Okay, hat der also versagt. Aber hey! Egal: „Together, we can make our world a better place for all“, endet der Text.
Deutsche nehmen den Staat viel ernster. Der darf nicht scheitern. Und vielleicht drückt sich deshalb hierzulande das ohnehin eigentümliche und spannungsvolle Verhältnis aller philanthropischen Bemühungen zum Staat in jener windschiefen Begrifflichkeit vom Ehrenamt aus. Denn „das Amt ist“, wie der Staatsrechtslehrer Joseph Isensee in erfreulicher Klarheit definiert, „die kleinste Einheit der Staatsorganisation“.
Und sein Widerpart ist „das selbstermächtigte, niemandem verantwortliche Engagement“, also ein notwendiges Übel, das in einem konservativen Staatsverständnis tunlichst unter Kontrolle zu halten ist: Seine Energien könnten in umstürzlerische Bewegungen umschlagen, und seien es Purzelbäume.
Für Purzelbäume ist Anfang des 19. Jahrhunderts Friedrich Ludwig Jahn zuständig, in dem alle Ambivalenzen des Engagements, vor allem seine unvorhersehbare gesellschaftliche Reform- und Zerstörungskraft zusammenfallen. Denn: Während Preußens König nach der Niederlage gegen Napoleon Ruhe als erste Bürgerpflicht proklamiert, propagiert Jahn das "Erwerben unentbehrlicher Leibesgeschicklichkeiten". Das Fehlen planmäßiger gymnastischer Ertüchtigung geißelt er als Versagen des Staats.
Wenigstens kostenfreie Übungen wie "Gehen, Laufen, Springen, Werfen, Tragen" sollte "der Staat von jedem verlangen, von Armen, Mittelbegüterten und Reichen", empfiehlt er: "Denn jeder hat sie nöthig."
Politisch wird der Sport durch die Ausrichtung aufs Gemeinwohl. Dem entspricht in Jahns tümelndem Verständnis eine Rückbesinnung auf das, was er als deutsche Tugenden behauptet: eine Steigerung militärischer Stärke und ein Überwinden von Standesunterschieden. Seinen aggressiven Nationalismus und das egalitäre Moment greifen die entstehenden Turnvereine auf.
Wie im mecklenburgischen Städtchen Friedland, aus dem sich 1813 mit Jahn 23 Männer und eine Frau dem Lützowschen Freikorps anschließen. Kurz nach deren Rückkehr entsteht dort 1814 der erste deutsche Turnverein. Dessen "Kosten [werden] durch Beiträge der Turner bestritten", erläutert sein Gründer Carl Leuschner, "wobei […] alle die, welche nichts zu geben vermögen, nach deutscher Weise, willig und freundlich übertragen werden".
Das ist dem preußischen Staat suspekt. Deutschtümeln ist noch nicht seins. Und Turnen ist verdächtig. Also wirds 1819 verboten. Vereinsvorsitzende können froh sein, wenn sie nicht verhaftet werden. Auf die Idee, Stützfunktionen solcher Umtriebe als Amt oder gar Ehrenamt zu bezeichnen, wäre man im 19. Jahrhundert nicht gekommen.
Denn während das Ehrenamt heute eine Arbeit ohne Entgelt bezeichnet, ist es ursprünglich eher ein Entgelt ohne Arbeit. Ein repräsentativer Posten, durch dessen zeitlich begrenzte Übernahme man einen lebenslangen Ehrensold erwirbt. Der flösse sogar dann noch weiter, wenn man vom Landgericht Hannover der Vorteilsnahme schuldig gesprochen würde.
Das deutsche Wort für diesen Sachverhalt verwendet der anonyme Verfasser des "Landbuch von Schwyz", einer kantonalen Gesetzessammlung, 1667 als einer der ersten in einem Text. Der verbietet "zuo erhaltung eineß Ehrenambtß Wein zuo Bezalen […] eß sige wenig oder vill".
Wann die Begriffe fusionierten, ist unklar. Es liegt nahe, einen Impuls in Bismarcks Sozialgesetzgebung zu vermuten, die soziale Funktionen verstaatlicht, die zuvor bürgerschaftliches Engagement erledigt hatte, Freiwilligenarbeit. Deren Träger: über 330 Arbeiterorganisationen, die 1878 wegen ihrer Zugehörigkeit zu den "gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" verboten wurden. Der Staat macht sich die Lücke zu eigen, die das Engagement identifiziert und geheilt hatte, und schließt sie - durch Verbeamtung.
Jetzt habe ich schon wieder einen Verein gegründet, immerhin der dritte. Er soll eine kulturelle Institution stützen, die mir lieb und teuer ist, vor ein paar Jahren mit staatlichen Mitteln ins Leben gerufen. Ökonomisch ist sie vergleichsweise erfolgreich, hängt jetzt aber doch in der Luft: Staat ist pleite. Unschön, aber soll man motzen?
Nein, das Problem ist nicht, dass der Staat Lücken hat: Das Gegenteil wäre ja erst recht der Horror. Das Problem ist: Die alte Dynamik, dass der Staat institutionalisiert, womit bürgerschaftliches Engagement gesellschaftliche Bedürfnisse befriedigt, ist nicht nur futsch. Man hat sie auf rabiate Weise umgekehrt: Die größten Lücken ins soziale Netz hat der Staat selbst gerissen, in Gestalt der rot-grünen Bundesregierung.
Die Enquetekommission des Bundestags beschönigte das in ihrem Abschlussbericht mit der Formel vom "ermöglichenden Staat": Der verheißt einerseits mehr Bürgerbeteiligung - die bis heute nicht eingetreten ist. Andererseits erwartet er die Mitwirkung "auch bei der Erbringung von Leistungen", was eben schon nicht mehr nach ganz freiwilliger Tätigkeit klingt, sondern nach Dienstverpflichtung, nach Amt, bloß unbezahlt.
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