Zweigliedriges Schulsystem: Die neue Elite
Lange galten Gesamtschulen als Relikte der 70er Jahre. Doch im neuen zweigliedrigen System erleben sie einen Boom. Doch für alle sind sie längst nicht mehr.
GÖTTINGEN/BERLIN taz | Der Schulhof der Integrierten Gesamtschule in Göttingen ist voller Fahrräder an diesem „Tag der offenen Tür“. Gut 1.000 Eltern, Kinder und Verwandte schieben sich durch die Flure des 70er-Jahre-Sichtbetonbaus.
Raz Khafar ist wegen ihres kleinen Bruders hier. Der wird im Herbst auf eine weiterführende Schule wechseln, mit einer Realschulempfehlung. „Die Lehrer meinten, dort sei er besser aufgehoben als am Gymnasium, denn zu Hause ist ja niemand, der ihm bei den Hausaufgaben helfen kann“, erzählt die zierliche Kurdin. An dieser Gesamtschule könnte ihr Bruder nach der zehnten Klasse in die gymnasiale Oberstufe wechseln. „Das wäre sehr gut für ihn.“
Khedar Samir hat im Irak als Lehrer gearbeitet. Sein Sohn war dort ein sehr guter Schüler, berichtet der Vater. Seit einem halben Jahr geht der Junge auf eine deutsche Grundschule und hat nun eine Hauptschulempfehlung. „Hier gibt es viele Möglichkeiten für ihn“, sagt der Vater und sieht sich in der vollen Aula um.
Und dann ist da noch die Heilpraktikerin Christine Löffler. Ihre Töchter könnten beide aufs Gymnasium gehen. „Ich kenne viele Eltern, für die das hier die Wunschschule ist“, sagt sie.
Gesamtschule als Hauptgewinn
Die Schule in Göttingen-Geismar steht seit mehr als 30 Jahren Haupt-, Realschülern und Gymnasiasten offen, hier werden sie gemeinsam bis zur zehnten Klasse unterrichtet. An der mit dem deutschen Schulpreis geadelten Gesamtschule einen Platz für den Nachwuchs zu bekommen, gilt unter den bildungsaffinen Eltern in Göttingen und Umgebung schon seit Jahren als Hauptgewinn, schaffen an der Schule doch überdurchschnittlich viele Kinder das Abitur.
Gesamtschule: Steht grundsätzlich für die Idee, alle Schüler unabhängig von Herkunft und Leistung gemeinsam zu unterrichten – als Gegenentwurf zum gegliederten Schulsystem. Gesamtschulen können integrativ (gemeinsamer Unterricht) oder kooperativ (Schüler nach Schulzweigen getrennt) organisiert sein.
Integrierte Gesamtschule (IGS): Bietet alle Schulabschlüsse, auch das Abitur, an und unterrichtet Schüler möglichst lange binnendifferenziert, also in einer Klasse nach individuellem Leistungsvermögen. Die IGS existiert in Niedersachsen, in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Hessen.
Gemeinschaftsschule: Ist eine Variante der IGS. Wurde als Regelschule in Schleswig-Holstein und Thüringen im Jahre 2010 eingeführt, im Saarland und in Baden-Württemberg können Eltern ihre Kinder ab diesem Schuljahr anmelden. Sie steht Schülern ab Klasse 5 offen. Die 2008 in Berlin eröffneten Gemeinschaftsschulen besuchen Kinder ab Klasse 1.
Oberschule: Hat die CDU als Sammelbegriff für die zweite Schulform neben dem Gymnasium vorgeschlagen, die Haupt- und Realschule vereint. Sie können Schüler getrennt oder gemeinsam bis Klasse 10 unterrichten.
Regionale Schule: Heißt die organisatorisch vereinte Haupt- und Realschule in Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein.
Sekundarschule: In Berlin gilt sie als gleichwertig zum Gymnasium. In NRW hat sie grundsätzlich keine Abiturstufe.
Stadtteilschule: Ersetzt in Hamburg seit 2010 Haupt-, Real- und Gesamtschulen und bietet auch das Abitur an.
Im September werden 175 Schüler neu aufgenommen, mehr als doppelt so viele haben sich in diesem Jahr beworben. „Ich muss ihnen jetzt schon sagen, dass einige von Ihnen Ihre Kinder hier wohl leider nicht unterbringen können“, eröffnet der Musiklehrer allen, die sich wie Raz Khafar, Christine Löffler und Khedar Samir auf harten Stühlen niedergelassen haben.
Freie Plätze werden an der Schule verlost. Doch die Lostöpfe und damit die Chancen sind ungleich verteilt. Zwei Drittel der neuen Fünftklässler werden eine Gymnasialempfehlung wie Löfflers Tochter haben, etwa 50 Plätze gibt es für „Realschüler“ und ganze 11 Plätze sind für „Hauptschüler“ vorgesehen.
Drei Millionen Grundschüler gibt es bundesweit, über 700.000 von ihnen wechseln in diesem Jahr an weiterführende Schulen. Doch es werden immer weniger. Und der Kampf um die „abitauglichen“ Schüler wird härter. Noch haben die Gymnasien in diesem Wettbewerb die Nase vorn. Im Jahr 2010 gingen in 12 von 16 Bundesländern die meisten Grundschüler noch dorthin. Doch das Gymnasium bekommt Konkurrenz.
Alle Länder außer Bayern sind dabei
Gesamtschulen, wie die Göttinger, sind längst keine Exoten mehr in einem streng nach Schulformen gegliederten Schulsystem, sondern fester Bestandteil eines Zwei-Säulen-Modells. Alle Bundesländer – außer Bayern – sind dabei, ihre Haupt- und Realschulen zusammenzulegen. Die neuen Kombischulen bieten wie die Gesamtschulen der 70er Jahre verschiedene Abschlüsse unter einem Dach an. Auch das Abitur.
Gerade die einst als „Schulen für alle“ gegründeten Gesamtschulen werben heute verstärkt um leistungsstarke Schüler und setzen dabei auf Auswahlverfahren, die zuweilen stark an die Elitenrekrutierung in Gymnasien erinnern. Die Spielregeln sind je nach Bundesland verschieden.
„Willst du zu Max Brauer, braucht dein Kind eine Gymnasialempfehlung“, ist ein Satz, den Eltern in benachbarten Szene-Vierteln zitieren, die ihre Kinder nur zu gern an der Gesamtschule in Hamburg Altona angemeldet sähen. Die ebenfalls preisgekrönte Max-Brauer-Schule kämpft darum, sich die Hälfte ihrer Schüler nach eigenen Kriterien zusammenstellen zu dürfen.
Diese Möglichkeit eröffnete 2008 noch die CDU-Regierung. Doch damit war im Herbst 2011 Schluss. Der neue SPD-Schulsenator Ties Rabe gab Anfang November, kurz vor der Anmelderunde fürs neue Schuljahr, bekannt, dass diese Ausnahmeregel nicht mehr gilt. Hat eine beliebte Schule zu viele Anmeldungen, bekommen fortan die Kinder den Platz, die am dichtesten dran wohnen.
Schüler von den Gymnasien abwerben
Anträge von CDU und Grünen, diese Regel wieder aufzuweichen, wurden von der SPD abgeschmettert. Derzeit ruht der Streit. Aber das Problem ist für Jens Fricke, Elternvertreter der Max-Brauer-Schule, nicht gelöst. Auch in Hamburg gibt es nur noch zwei Säulen: Gymnasien und Stadtteilschulen, die auch zum Abitur führen. Die leistungsstärkere Hälfte der Kinder geht zum Gymnasium, die andere geht zur Stadtteilschule. „Damit die Stadtteilschulen gut arbeiten können, brauchen sie eine gute Mischung“, sagt Fricke. „Es muss den Schulen durch attraktive Konzepte gelingen, Schüler von den Gymnasien abzuwerben.“
Kinder, die an der Gustav-Heinemann-Schule im Berliner Stadtteil Tempelhof einen sicheren Platz bekommen wollen, brauchen im Zeugnisdurchschnitt mindestens eine 2 vor dem Komma. Oder sie müssen einen der Auswahltests erfolgreich bestehen: die 45-minütige Matheklausur, den mündlichen Sprach- oder Musiktest. „Über 60 Prozent unserer Schüler könnten auch auf dem Gymnasium sein“, berichtet Schulleiter Carsten Hintze stolz.
Die Zeiten, in denen Gesamtschulen darauf achteten, dass starke, mittlere und schwächere Schüler zu gleichen Teilen vertreten sind, sind hier wie auch an anderen „Schulen für alle“ längst vorbei. Das beklagen auch andere, wie der Vorsitzende des Gesamtschulverbandes, Lothar Sack: „Gesamtschulen, die anfangen, ihre Schüler nach Leistung auszusortieren, verstoßen gegen ihr eigenes Credo.“
Lothar Sack kritisiert das neue Elitedenken. „Sie machen das, was man dem gegliederten Schulsystem vorwirft.“ Dabei seien die „Schulen für alle“ einst gegründet worden, um dem Auslesegedanken entgegenzuwirken, argumentiert der pensionierte Schulleiter der Berliner Fritz-Karsen-Schule, der ältesten staatlichen Gesamtschule in Deutschland.
Schulwahl für leistungsschwächere Kinder am schwierigsten
Gerade für die Schüler, die die meiste Förderung bräuchten, wäre es so am schwierigsten, an die Schule ihrer Wahl zu gelangen, meint Sack. Allerdings, räumt er ein, befänden sich Schulen, an denen überwiegend leistungsschwächere Schüler lernten, in einem Dilemma: „Die Schüler dort sind insgesamt weniger erfolgreich.“
Und diesen Schulen droht das gleiche Schicksal wie vielen Hauptschulen: sie werden zu „Restschulen.“
Von einer guten Mischung profitieren dagegen Schüler wie der Sohn des irakischen Lehrers Khedar Samir. „Gerade Kinder aus dem Ausland machen bei uns häufig das Abitur“, sagt der Schulleiter der Göttinger Gesamtschule, Wolfgang Vogelsänger. Warum nimmt die Schule dann nicht mehr Schüler mit Hauptschulempfehlung auf? Vogelsänger bleibt bei seiner Antwort freundlich. „Wir würden das verkraften, aber wir machen es nicht. Als einzelne Schule können wir nicht die Probleme des Schulsystems lösen.“
„Die Konkurrenz wird härter“
„Die Gesamtschulen sind nicht dazu da, die Hauptschulen zu retten“, stellt denn auch der Leiter der Gesamtschule Bonn-Beuel, Stephan Ludwig, klar. Für ihr Konzept, Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarf und besonders Begabte zu fördern, erhielt die Bonner Schule gleichfalls einen deutschen Schulpreis. Doch Ludwig weiß: Damit das Konzept funktioniert, braucht die Schule eine deutlich wahrnehmbare Gruppe von leistungsstarken Schülern. „Die ziehen dann die anderen hoch.“
In diesem Jahr habe die Schule zwar noch keine Mühe, ausreichend Schüler aus dem obersten Leistungsspektrum zu rekrutieren. Aber gerade haben in unmittelbarer Umgebung zwei weitere Gesamtschulen eröffnet. „Die Konkurrenz wird härter“, meint Ludwig.
Der Schulleiter der Göttinger Gesamtschule, Wolfgang Vogelsänger, fürchtet Konkurrenz dagegen nicht. Obwohl es im nächsten Jahr auch in der Umgebung seiner Schule eine zweite Integrierte Gesamtschule geben wird. Er lächelt: „Dann werden sie hier ein Gymnasium schließen müssen.“
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