Zweifeln Die britische Sängerin Laura Mvula war 21, als sie in die Depression stürzte. Ihr Glaube stürzte mit: „Ich war exponiert. Jetzt bin ich nackt“
Gespräch Philipp Gessler
Der Klang von Laura Mvulas Stimme ist weich und hart, schmelzend und rau, ihre Präsenz umwerfend – die Depression sieht man nicht. Wenn sie spricht, ist sie vor allem eines: radikal ehrlich.
taz.am wochenende: Frau Mvula, sind Sie schüchtern?
Laura Mvula: Als Kind war ich es. Aber auch extrovertiert. Laut.
Etwa auf der Bühne?
Ich bin auf der Bühne auch schüchtern. Wenn die Musik mich nicht jede Faser meines Körpers spüren lässt, bin ich sehr schüchtern und allem ausgeliefert. Aber wenn die Musik mich trägt, dann bin ich total entspannt.
Sie haben schon öfter über Ihre Depressionen und Panikattacken gesprochen. Werden diese noch verstärkt, weil Sie eine öffentliche Person sind?
Ich glaube, dass der Ruhm zu meiner Angst beiträgt. Es ist nicht selbstverständlich, berühmt zu sein. Meine erste Panikattacke hatte ich aber vor zehn Jahren als Studentin. In meiner Familie ging es damals drunter und drüber. Meine Eltern trennten sich.
„Now there’s nothing left in me but fear“ – nun ist nichts mehr in mir außer Angst –, heißt es in einem Lied auf Ihrem ersten Album „Sing to the Moon“ von 2013.
Oh dear! Da gibt es wenig Fortschritt.
Singen Sie da von Ihren Panikattacken?
Von meinen narzisstischen Grübeleien. Ich neige zum Melodram. Wenn man sich kreativ ausdrückt, kommt so etwas dabei raus.
Und Ihre Familie findet: Das ist in Ordnung, sich so zu entgrenzen?
Ja, vor allem meine Mutter. Sie ist auch sehr emotional. Wenn sie in den Nachrichten was Schlimmes sah, etwa wie eine Mutter ihr Kind verlor, reagierte sie, als hätte sie das selbst erlebt. In der folgenden Nacht weinte sie im Traum. Ich habe ihre Leidenschaft bewundert, war aber auch verwirrt – und habe, was ich von ihr hörte, wahrscheinlich irgendwie in Songs verwandelt.
Kommen Sie aus einer Musikerfamilie?
Im weitläufigen Familienkreis ja. Man kennt in Deutschland das A-cappella-Quintett „Black Voices“ – seit 30 Jahren gibt es das. Die Schwester meiner Mutter leitet es. Man sieht: Eine Frau kann den Ton angeben in der Musikszene.
Ein Vorbild für Sie?
Als Teenager gehörte ich eine Zeit lang zur Gruppe. Erst war ich Assistentin, dann habe ich Songs für sie geschrieben und später auch mitgesungen – obwohl ich Auftritte am Anfang gehasst habe. Jedenfalls begann so meine Musikkarriere.
A-cappella-Musik – ist das nicht ein schwieriges Genre?
Meine Tante ist eine starke Persönlichkeit. Denn es braucht einen mutigen Menschen mit einer Vision, um ein Projekt zu leiten, das nicht in die Ach-so-populär-Musikecke gestopft werden kann. Sie zu erleben war wichtig für mich.
Sie sagen, Sie hätten Auftritte gehasst, haben aber doch auch im Kirchenchor gesungen.
In der Kirche spielt Musik eine andere Rolle. Da soll die Gemeinde bewegt und erhoben werden, um Gott zu ehren. Das ist was anderes, als auf der Bühne zu stehen, um zu unterhalten. Ich habe viel Musik in der Kirche gemacht. Gesungen, aber auch mit meinem Exmann in einer Band Keyboard gespielt.
In Ihren Liedern finden sich Zeilen, die wie Gebete sind. Hat Ihnen Ihr Glaube geholfen, die Panikattacken und die Depression zu überwinden?
Eher umgekehrt. Jede Panikattacke, jeder negative Gedanke kann heruntergebrochen werden auf etwas, was falsch ist. Falsch war meine Haltung im Glauben. Als ich 21 oder 22 Jahre alt war, damals, als es in meiner Familie viele Probleme gab und die Panikattacken anfingen, fühlte ich mich in Wirklichkeit zum ersten Mal so frei, meinen Glauben infrage zu stellen. Das war der Einstieg in einen authentischen Glauben.
Was meinen Sie damit?
Ich konnte plötzlich Fragen stellen, die vielleicht hässlich waren und auf die es keine Antworten gab. Die Frage nach dem Leid. Die Frage nach der Erzählung Jesu, nach Geschichte und Politik. Vielleicht war Schmerz die Wurzel dieser Fragen. Davor jedenfalls dachte ich nie über das nach, was ich verkündete.
Und das bedeutet?
Ich weiß nicht wirklich, was ich heute glaube. Aber trotz des Kampfs mit der Depression, mit der Angst, bin ich heute so zufrieden wie noch nie. Weil ich lebendiger bin, mehr mit meiner eigenen Existenz verbunden. Während es davor, wegen der Art, wie ich erzogen wurde, nie nötig war, die eigene Existenz zu befragen. Ich lebte in einer Blase, einer, deren Rahmen die Kirchengemeinde war und deren Essenz Liebe – oder eine Auffassung von Liebe, die behütet und sicher schien. Ich habe die Welt nur durch die Augen meiner Eltern gesehen, vor allem durch die meines Vaters. Also, wenn Sie sich vorstellen, er war Gott – und auf einmal verschwindet Gott, weil er die Familie verlässt. Sie denken, Sie verstehen die Welt, und dann werden Sie verarscht. Aber es war das Beste, was mir passieren konnte.
Ihre Eltern ließen sich scheiden, als sie 21 waren, also auch schon erwachsen. Und trotzdem hatte das so eine Wucht?
Ich denke, zerbrochene Familien hinterlassen intensiven Schmerz, hinterlassen das Gefühl, beschädigt zu sein, egal wie alt man ist. Ich habe neulich mit einer Freundin gesprochen, die vor acht Jahren ihre Mutter verloren hat. Sie meinte: Scheidung von einer geliebten Person sei schlimmer als Tod, denn es ist nicht endgültig. Also, obwohl der Vater weg war und es eine Art psychologischer Tod war, war er doch nicht tot. Mit dieser Erkenntnis sah ich die Welt plötzlich anders.
Wie?
Ich hatte unsere Familie als perfekte Struktur erlebt. Ich wurde aufgezogen in einer, wie mir schien, liebenden Familie mit viel Gemeinschaft, Freude, Disziplin. Mein Vater war dabei die klare Führungsfigur, der Kopf des Hauses, der mit dem letzten Wort, der, der der Anfang und das Ende war.
Und da gab es in alldem keine Ironie?
Exakt. Der Tag, an dem ich ihn gebrochen sah, war der, an dem ich ihn zum ersten Mal als ein menschliches Wesen erkannte. Und das war der Beginn einer Entwicklung bei mir, wo ich mir viele Regeln, die ich bis dahin für unumstößlich gehalten hatte, wieder abgewöhnen musste. Als er ging, wusste ich nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Es war, als ob der Himmel einstürzt.
Hatte es davor zwischen Ihren Eltern nie Streit gegeben?
Schon. Aber es folgte nie etwas daraus, bis mein Vater ging. Und das zog mir den Boden unter den Füßen weg. Heute bin ich natürlich froh darüber, weil ich mich von da an der Welt gestellt habe. Es war nicht so, dass vorher keine schlimmen Dinge passiert wären, meine Mutter hatte Brustkrebs, die Schwester meines Vater auch, sie starb daran, aber die Präsenz meines Vaters war wie ein Schutzschild. Das Schlimmste konnte passieren und er blieb ruhig, stark, still – das gibt dir das Gefühl, mit allem klarzukommen.
Wie schafften Sie es, sich trotz Depression und Panik auf die Musik zu konzentrieren?
Sie sind der Erste, der mich das fragt. Die Arbeit am Album war der Horror. Ich wache in der Nacht im Bett auf, fühle mich in Ordnung, denke: Okay, jetzt gibt es ein Fenster, lass mich versuchen, etwas zu schreiben. Zehn oder zwanzig Minuten geht das, bis ich alles wieder abbrechen muss. Ich musste dann in ein anderes Zimmer, wo jemand war. Wenn ich jemanden treffen konnte, wir uns anschauen konnten, dann ging es mir wieder besser.
Wie haben Sie die Panickattacken erlebt?
Als würde mein Gehirn explodieren. Ich habe versucht, nicht zusammenzubrechen. Je wütender ich wurde, desto schlimmer wurde es. Auch wenn ich mir sagte: Komm, Laura, da passiert nichts, dein Gehirn simuliert nur, wie sterben sich anfühlen könnte. Aber es spielte keine Rolle, was mir mein Intellekt sagte. Nur wenn Leute um mich waren, denen ich vertraute, ging es besser.
Und die Musik hat nicht geholfen?
Nein. Wenn ich innerlich angeregt bin und spüre, dass da gerade musikalisch etwas Besonderes passiert – dann: Oh, fuck, ich muss den Raum verlassen. Bei meinem neuen Album, „The Dreaming Room“, denke ich oft: Wie haben wir das geschafft? Nicht durcharbeiten, sondern dauernd unterbrechen, den Raum verlassen, wegrennen.
Und wiederkommen?
Von Michael Kiwanuka gibt es diesen Song: „Oh my! I didn’t know, how hard it would be!“
War Musik für Sie am Ende doch eine Art von Therapie?
Musik schafft es, mich an einen besseren Ort zu bringen. Ich höre mir jeden Tag ein oder zwei Songs von „The Dreaming Room“ an. Es gibt mir etwas, was ich nicht beschreiben kann – etwas wie eine menschliche, sehr ursprüngliche Erfahrung.
Was für eine?
So wie wir morgens nach Essen verlangen, so verlangen wir danach, uns in der Musik lebendig zu fühlen. Sie verändert uns. Das ist ihr Geheimnis – und ihre Stärke. Wir sprechen in der Band auch oft darüber, aber niemand weiß, warum diese Akkorde oder jene Zeilen genau dieses oder jenes Gefühl hervorrufen. Es geht um mehr als mein Sein. Nennen Sie es, wie Sie wollen: die Existenz Gottes. Bewusstwerdung. Der Raum zwischen Sache und Zeit.
So viel Gefühl. Können Sie im Showbusiness Ihre Sensibilität denn überhaupt zulassen?
Darauf habe ich keine Antwort. Erst vorgestern, auf dem Weg zu einem Festival, brach ich nach einem Gespräch mit meinem Freund zusammen. Ich weinte. Das ist hart für meine Band. Das will niemand sehen. Was ist los mit dir? Red doch drüber – blablabla. Alles, was ich sagen konnte, war: Ich glaube nicht, dass ich dafür gemacht bin. Das fühlt sich für mich nicht natürlich an. Auch dieses Studio, in dem wir sind, fühlt sich nicht richtig an.
Warum?
Es ist das Zuhause von Laura Mvulas Musik. Sie gehört nicht mir, sie gehört denen. Ich habe nicht alles durchdacht, bevor ich da reingeraten bin. Ich wusste nicht, was es bedeutet, für jeden zu jeder Zeit verfügbar zu sein. Wenn ich Fans in den sozialen Medien sehe, süchtig nach meiner Musik, denke ich: Ich gebe Teile von mir her. Wenn ich in diesem Gebäude bin, kann ich über meine Leidenschaft für Musik sprechen, bis ich blau im Gesicht bin. Und doch bin ich am Ende nur eine Marke, ein Produkt.
Trotzdem geben Sie in Interviews und Ihren Liedern einen großen Einblick in Ihre Gefühlswelt. Da ist doch auch eine Gefahr, oder?
Das kommt mir mittlerweile auch so vor. Erst schien es eine gute Idee, allen alles zu erzählen, zum Beispiel, dass ich bald geschieden werde. Ich dachte, es kümmert sowieso niemanden. Und es ist ja auch so. Aber etwas gibt es, was die Leute wirklich bewegt: Oje, du hast Panikattacken! Du hast Depressionen! – Hauptsache, die Leute wissen, wie du tickst. Früher war ich exponiert, nun bin ich nackt. Durch mein eigenes Zutun.
Die Frau: Die Soulpopsängerin aus Birmingham wurde 1986 geboren. Ihre Herkunftsfamilie stammt aus der Karibik. Sie hat Komposition studiert und eine klassische Gesangsausbildung.
Die Musik: Erst arbeitete sie als Musiklehrerin und schrieb nebenher Popsongs. Ihr Debütalbum „Sing to the Moon“ erschien 2013. Jetzt brachte sie „The Dreaming Room“ heraus.
Das klingt, als betrachteten Sie das Ganze mittlerweile doch mit Humor.
Ach, vielleicht. Es ist doch so: Die Existenz jedes einzelnen Menschen ist am Ende ein Rätsel. Meines ist eines ohne Mann, ohne Kinder, ohne Kernarbeitszeiten. Stattdessen bin ich überall, überall auf der Welt. Jeder hat seine eigenen Fragen und sein eigenes Leiden – ich gehe nur sehr offen damit um.
Sie haben kürzlich einen Dokumentarfilm über die Soulsängerin Nina Simone gemacht. Sie sagte, sie fühle sich frei auf der Bühne, vielleicht nur auf der Bühne. Ist das bei Ihnen ähnlich?
Natürlich ist sie ikonenhaft. Sie ist einfach Nina Simone. Es inspiriert mich, wie sie Dinge sagte: „Was ist Freiheit für Sie?“ Und Nina Simone lacht: „Hahaha! Freedom? No fear! No fear! Sie hilft mir, mir vorzustellen, wie es wäre, ohne Angst zu leben. Puuuh! Dann wäre mein Potenzial grenzenlos.
Nina Simone kämpfte auch mit Dämonen.
Wir alle kämpfen mit Dämonen. Wir sitzen im gleichen Boot, werden alle irgendwann sterben. Mehr noch, wir wollen alle das Gleiche: etwas tun, jemanden lieben. Alle versuchen, zu überleben. Wir treffen dabei Entscheidungen, die uns durchs Leben navigieren. Manche finden sich wieder in einem psychischen Chaos, andere verdrängen. Freunde von mir sagen: Ich komme nicht zu deinem Konzert, weil ich nicht weinen will. What the fuck is that?
Ein Kompliment?
Niemals. In Wirklichkeit bedeutet es doch: Wir wollen uns deiner Verletzlichkeit nicht aussetzen. Ich bin vor zehn Tagen zum ersten Mal auf der Bühne zusammengebrochen. In Finnland. Es gab große Soundprobleme. Das hatte ich noch nie. Ich bin noch nie auf der Bühne zusammengebrochen. Ich habe mich total, traumatisch verwundbar gefühlt vor Tausenden von Leuten. Mir fehlten in dem Augenblick die Worte, angemessen zu erklären, was da passiert ist.
Sie weinten?
Danach bin ich drei Tage nicht aus dem Haus. Weil es so ein unangenehmes Gefühl ist, gesehen zu werden, wenn man schwach ist. Diese Leute denken, ich bin eine verdammte Queen – und alles, was ich tue, muss diesem Image genügen. Und dann passiert etwas, das dem widerspricht, und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Oh shit, der Gitarrenverstärker ist gerade explodiert. Ich habe Verzerrungen in meinem Ohr, ich kann den Track nicht hören. Ich weiß nicht, was ich nun singen soll. Soll ich das dem Publikum sagen? Wenn ich es tue, bin ich keine Queen mehr. Soll ich von der Bühne gehen? Aber am Ende, am Ende meiner Trauerphase, habe ich realisiert: Oh, dies hat gar nichts verändert. Ich werde immer noch eines Tages sterben. Ich habe immer noch den „Dreaming Room“ und „Sing to the Moon“ geschrieben. Ich muss die Dinge auf ihren Kern reduzieren, das, was wichtig ist.
Für Nina Simone war die Schwarzenbewegung wichtig. Ist das bei Ihnen ähnlich?
Am Anfang meiner Karriere schon. Ich bin in einer karibischen Familie in England aufgewachsen. Ein schwarzes Kind in einer weißen Wohngegend. Heute will ich mein Schwarzsein feiern, denn schwarz zu sein bedeutete für mich als Kind nicht sehr viel Gutes. Meine erste Erfahrung war: Ich bin getrennt von anderen und bin nicht gleich. Und jetzt, als eine Erwachsene, verbunden mit Lebensgeschichten von Leuten wie Nina Simone und James Baldwin, beide sind meine Helden, ist klar: Viel hat sich nicht verändert. Obwohl manche ihr Leben dafür gegeben haben. Aber yeah, ich übernehme den Staffelstab.
Philipp Gessler ist taz-Autor
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