Zweifelhafte Versprechungen

Seitdem Pflichtversicherte ihre Kasse frei wählen können, buhlen auch die gesetzlichen Krankenkassen mit Lockangeboten um neue Mitglieder. Ein Leitfaden  ■ Von Ole Schulz

Jedesmal wenn Frank Greiner, Allgemeinarzt mit einer dreijährigen Zusatzausbildung als Homöopath, einen neuen Patienten in seiner Praxis untersucht hat, kommt er ins Grübeln. Wie kann er die homöopathische Erstanamnese überhaupt abrechnen? Die Aufnahme der Krankengeschichte dauert mindestens eine Stunde und umfaßt einen Katalog von rund einhundert Fragen. In der neuen, komplizierten Gebührenordnung, nach der die Ärzte mit den gesetzlichen Kassen abrechnen, kommt diese spezielle Leistung aber gar nicht vor. Nach dem schwer durchschaubaren Punktesystem kann er nicht mehr als 25 Mark für die Erstuntersuchung verlangen. Dabei ist sie erheblich aufwendiger als eine schulmedizinische Anamnese, auf die der Gebührenkatalog zugeschnitten ist. „Für so wenig Geld macht ein Rechtsanwalt nicht mal seinen Füller auf“, beschwert sich Greiner. Nach Untersuchungen der Kassenärztlichen Vereinigungen muß ein Allgemeinarzt mindestens 180 Mark Stundenumsatz erzielen, um – angesichts hoher Kosten für Miete, Personal, Material und Arbeitsgeräte – wirtschaftlich zu arbeiten. „Entweder ich verkürze das Gespräch drastisch oder ich muß den Patienten drängen, privat abzurechnen“, beschreibt Greiner sein Dilemma.

Was dem Homöopathen Greiner Kopfschmerzen bereitet, schmerzt eben auch jene Patienten, die alternative Heilverfahren einer schulmedizinischen Behandlung vorziehen. Wegen der niedrigen Kassenzuschüsse müssen sie nicht selten aus eigener Tasche draufzahlen. Immerhin haben einige Krankenkassen Modellprojekte gestartet, bei denen auch die homöopathische Erstanamnese höher vergütet wird, als die Gebührenordnung vorsieht – zum Vorteil von Ärzten und Patienten.

Die Innungskrankenkasse (IKK) Hamburg, die bundesweit Versicherte aufnimmt, begann vor über einem Jahr mit der – nach eigenen Angaben – „umfangreichsten Erprobungsregelung zu Naturheilverfahren, die bisher in Deutschland durchgeführt wurde“, so Michael Förstermann, Pressesprecher der IKK Hamburg. „Dazu gehören die klassische Homöopathie, die Akupunktur, die Neuraltherapie und die anthroposophische Medizin einschließlich ihrer nichtärztlichen Therapien wie Heileurythmie, Kunsttherapie und rhythmische Massage.“ Die IKK Hamburg erstattet ihren Versicherten 95 Prozent der Kosten für die jeweilige ärztliche Behandlung und 90 Prozent der Kosten für die nichtärztlichen Therapien. Einziger Haken: Die Patienen müssen die Behandlungskosten zunächst vorstrecken (Kostenerstattung), und die behandelnden Ärzte müssen von den Kassen anerkannte Vertragsärzte sein.

In dem Modellprojekt soll neben der Wirksamkeit vor allem auch die Wirtschaftlichkeit von Naturheilverfahren überprüft werden. Einiges spreche dafür, so Axel Dischmann, Vorstandsvorsitzender der IKK Hamburg, „daß die von uns erprobten Naturheilbehandlungen zumindest mittel- und langfristig kostengünstiger sein könnten als die konventionelle Schulmedizin“. Während die ärztliche Behandlung bei Naturheilverfahren aufwendig und daher teuer ist, sind die Folgekosten geringer, da Medikamente in der Naturheilkunde deutlich weniger verschrieben werden als in der Schulmedizin. Nach Kassenauswertungen spart eine homöopathische Praxis im Vergleich pro Jahr rund 120.000 Mark an Arzneikosten. Neben der IKK Hamburg wirbt auch die kleine Securvita Betriebskrankenkasse offensiv für natürliche Heilverfahren: Die homöopathische Erstanamnese wird von der Securvita mit 180 Mark, eine Akupunktur-Behandlung mit 55 Mark pro Sitzung vergütet.

Es lohnt sich, die Angebote der Kassen genau miteinander zu vergleichen, denn seit Anfang 1997 können auch Pflichtversicherte einer gesetzlichen Krankenkasse frei wählen, wo sie Mitglied werden wollen (s. Kasten unten). Im Wettstreit um Kunden versuchen nun auch die gesetzlichen Kassen mit Lockangeboten, Werbeprospekten, Rund-um-die-Uhr-Beratungscentern, Kritik- und Servicetelefonen neue Mitglieder zu gewinnen. Bei bundesweit über 100 Kassen und häufig zweifelhaften Versprechungen, bei der gesetzlich festgeschriebene Kassenleistungen als außergewöhnliche Extras gepriesen werden, ist die Verwirrung beim Verbraucher groß. Und das, obwohl 95 Prozent der Leistungen der gesetzlichen Kassen durch Gesetze einheitlich vorgeschrieben sind.

Ein wichtiges Kriterium bei der Wahl der Krankenkasse ist die Höhe des Beitragssatzes, der jeweils zur Hälfte vom Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber bezahlt wird. Nach einer Untersuchung der Stiftung Warentest (test- Heft 6, 1998) schwanken die Sätze zwischen 11,5 und 14,9 Prozent – bei einem Monatsbruttoverdienst von 5.000 Mark hätte man bei der billigsten Kasse 1.050 Mark im Jahr gespart. Die niedrigsten Sätze bezahlt man bei den Betriebskrankenkassen; sie haben meist geringere Verwaltungskosten, weil sie an einen Betrieb angegliedert sind. Ihr Nachteil: Auch die bundesweit operierenden BKKs haben kein weitgespanntes Netz von Zweigstellen und sind daher häufig nur telefonisch erreichbar.

Zu den preiswertesten Kassen in Berlin gehört mit einem Beitragssatz von 12,9 Prozent die Gmünder Ersatzkasse (GEK). Den günstigen Satz führt Michael Tscheuschner von der GEK Berlin auf eine „effiziente Verwaltung“ zurück. „Wir haben bundesweit weit über 100 Geschäftsstellen und persönliche Ansprechpartner überall vor Ort“, preist Tscheuschner die eigene Kasse an. Sicher ist, daß die GEK im „Deutschen Kundenbarometer 1997“, einer jährlichen Studie der Deutschen Marketing-Vereinigung und der Deutschen Post AG, bei der Zufriedenheit der Versicherten ermittelt wird, auf Platz eins landete (Note 1,91), gefolgt von der Techniker Krankenkasse (Note 2,2).

Die – gemessen am Beitragssatz keinesfalls billige – AOK Berlin (14,9 Prozent) bietet eine andere Möglichkeit, Geld zu sparen: Wer ein Jahr lang keine oder nur wenig (anzurechnende) Leistungen in Anspruch genommen hat, erhält im Folgejahr bis zu 1.000 Mark zurück. 1997 haben über 50.000 Mitglieder der AOK Berlin Beiträge im Wert von 18,5 Millionen Mark erstattet bekommen.

Allerdings sollten finanzielle Überlegungen nicht allein für die Wahl der Kasse ausschlaggebend sein. Auch der Service, die Zahl und Öffnungszeiten der Geschäftsstellen, die Hilfsbereitschaft der Mitarbeiter oder die Frage, ob es zahnmedizinische Beratungsdienste oder Unterstützung bei Behandlungsfehlern gibt, sind wichtig. Oder man legt Wert auf besondere Behandlungsmethoden wie zum Beispiel die Balneo-Photo- Theraphie, die die Barmer Ersatzkasse (Beitragssatz 13,9 Prozent) – als Ersatz für eine Kur am Toten Meer – gegen Neurodermitis und Schuppenflechte anbietet. Im Zweifelsfall ist es immer besser, sich von der Kasse schriftlich geben zu lassen, daß die Kosten für bestimmte Leistungen übernommen werden.

Entscheidend sind letztlich die persönlichen Prioritäten. Wem natürliche Heilverfahren besonders am Herzen liegen, der dürfte auch in Kauf nehmen, daß die IKK Hamburg und die Securvita BKK jeweils nur eine Geschäftsstelle in Hamburg haben. Zumal die IKK Hamburg mit 13,4 Prozent einen vergleichsweise moderaten, die Securvita BKK mit 12,1 Prozent gar einen äußerst günstigen Beitragssatz zu bieten hat.

AOK Berlin Tel. 25312000, Barmer Ersatzkasse Tel. 01802-100200, IKK Hamburg Tel. 0130-860901, Gmünder Ersatzkasse Tel. 0130-123177, Securvita BKK Tel. 0130-176917, Techniker Krankenkasse Tel. 0180-2301818

Die Broschüre „Homöopathie inclusive? Freie Krankenkassenwahl und alternative Medizin“ ist für 4 Mark in Briefmarken bei der Verbraucherinitiative, Breite Str.51, 53111 Bonn, zu beziehen.