Zwei Szenarien für das Referendum: Am nächsten Morgen
Wenn 50,1 Prozent der Wähler*innen am Sonntag mit “Nein“ stimmen, werden wir mit unseren Sorgen weiterleben müssen. Doch wir werden stärker sein.
Am Abend des 16. April werden in der Türkei viele den Atem anhalten.
Wer einschlafen kann, wird am nächsten Morgen in einer von zwei möglichen Welten aufwachen. Eine von ihnen wird der heutigen Türkei sehr ähneln. Die Welt nach dem „Nein“.
Wie lässt sich nur die andere erklären? Das Land wird sich einem uneinschätzbaren Paradigmenwechsel unterziehen. Oder nein, vielleicht ist dieser Vergleich besser: Es wird eine Reise in einen dunklen Tunnel beginnen, bei der niemand weiß, was sich am Ende der Reise befindet. In der Theorie ist klar, was dort ist. Die Verfassungsänderungen liegen uns bereits vor. Doch wie das Leben praktisch aussehen wird, das ist noch unklar.
Beginnen wir mit dem kleineren Übel.
Journalistin. Arbeitete bei der Zeitung Milliyet und den TV-Sendern NTV und IMC TV. Derzeit aktiv bei der Onlineplattform haberSIZsiniz, WDR Cosmo und RSF in der Schweiz.
Wenn am kommenden Sonntag beim Verfassungsreferendum in der Türkei 50,1 Prozent der Wähler*innen mit “Nein“ stimmen sollten, werden wir mit unseren heutigen Sorgen weiterleben müssen. Aber mit einem Unterschied: Jene Mitbüger*innen, die sich in diesen Tagen so sehr für die Erhaltung der Demokratie einsetzen, werden gestärkt in den neuen Tag gehen.
Die Gesichter der zahlreichen Demokrat*innen werden, wenn auch aufgrund eines nicht sehr demokratischen Referendums, nach langer Zeit um ersten Mal wieder lächeln. Sie werden dieses Gefühl eine “verzweifelten Minderheit“ zu sein, das sie nach den Gezi-Protesten 2013 und nach den für ungültig erklärten Parlamentswahlen im Juni 2015, endlich loswerden können.
Sie werden sich fühlen, als hätten sie einen schweren Lastwagen gestoppt, der mit voller Geschwindigkeit bergab rollt, bevor er noch mehr Menschen in den Tod reißt.
Das Parlament wird Gesetze verhindern können
Das heißt: Statt eines neuen Ein-Mann-Regimes, wird weiterhin unser parlamentarisches System bestehen bleiben. Auch wenn das heutige System nicht richtig funktioniert, auch wenn 13 Abgeordnete immer noch in Haft sitzen, das Parlament wird bleiben, wo es ist.
Immerhin werden somit lebenswichtige Entscheidungen von gewählten Vertreter*innen des Volkes mit getroffen. Sie werden Gesetzesentwürfe verhindern können, wie kürzlich jenes, das eine Strafmilderung für Vergewaltiger vorsah, wenn sie beschließen, die Betroffenen zu heiraten.
Doch wird die Regierungspartei AKP in die Brüche gehen, wenn es zu einem mehrheitlichen “Nein“ kommt? Werden die Abtrünnigen um Expräsident Abdullah Gül und den ehemaligen Stellvertretenden Ministerpräsidenten Bülent Arınç eine neue Partei gründen, wie aus manchen Quellen zu vernehmen ist? Solange der Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan immer noch die Strippen der Justiz zieht, ist diese Prognose nicht sehr realistisch.
Denn wir befinden uns in einer Zeit, in der jeder, der sich kritisch äußert, zum Staatsfeind erklärt wird. Das wird sich auch mit dem “Nein“ nicht von heute auf morgen ändern.
Und die Opposition?
Alle Lager handeln mit äußerster Vorsicht. Wenn fast fünfzig Prozent des türkischen Volk für die Alleinherrschaft Erdoğans stimmen, ist klar, dass eine neue Partei aus Abtrünnigen der AKP wenig Erfolg haben wird. Wieso also nicht das Spiel weiterspielen, um das eigene Amt zu schützen, bis die nächsten Wahlen anstehen?
Und wie steht es um die Graue Wölfin Meral Akşener, die soeben aus der rechtsextremen MHP ausgeschlossen wurde, weil sie sich öffentlich für ein “Nein“ aussprach? Sie wird sich höchstwahrscheinlich mit anderen MHPlern zusammentun, um der AKP und der links-kemalistischen CHP nationalistische Wähler*innen abzugreifen.
Wird die CHP in der Folge immer noch um nationalistische Stimmen buhlen, oder wird sie mit links ausgerichteten Parteien in den Dialog treten? Ich fürchte, es wird eher Ersteres geschehen.
Über die kurdischen Wähler*innen heißt es, sie würden das Referendum boykottieren. Das wünscht man sich wohl in Regierungskreisen so. 'In Wahrheit ist es so, dass obwohl die von ihnen gewählten Abgeordneten und Bürgermeister seit Monaten in Haft sitzen, die Wähler*innen der prokurdischen linken Partei HDP trotzdem wieder zur Wahlurne gehen wollen.
„Nein“ heißt Demokratie
Mit “Nein“ stimmen heißt für sie nämlich, den jahrelangen Kampf um Demokratie fortzusetzen. Auch wenn sie derzeit im Parlament so gut wie nicht vertreten sind, wissen sie: Es kann noch schlimmer kommen. Deshalb ist das Festhalten am heutigen parlamentarischen System, das kleinere Übel. Und es gibt Umfragen, laut denen 65 Prozent des Volks vorhaben, mit “Nein“ zu stimmen.
Vor allem Frauen sind darunter. Schon am 8.März sah man sie hoffnungsvoll die Straßen stürmen. Sie werden glücklich sein, wenn es zu einem “Nein“ kommt. Sie werden sich endlich gegen eine patriarchale Regierung durchgesetzt haben, die bestimmen will, wie viele Kinder sie gebären sollen und ob Abtreibungen moralisch vertretbar sind, oder nicht. “Mein Körper, meine Entscheidung“ wird nicht mehr nur ein Slogan sein.
Doch, was passiert, wenn es am Sonntag zu einem mehrheitlichen “Ja“ kommt? Dann wird der Lastwagen mit voller Geschwindigkeit weiterrasen. Wir werden auf ein Regime zusteuern, das teilweise Ähnlichkeiten mit den vergangenen Zeiten von Syrien oder Irak aufzeigen könnte.
In den Worten des Staatspräsidenten Erdoğan: “Sowohl Pauke als auch Schläger werden sich bei derselben Person befinden.“ Wir tanzen nach einer Pauke. So ein Leben wird das sein.
Volksentscheid über Todesstrafe
Vielleicht wird Erdoğan sich erstmal ein bisschen entspannen. Vielleicht werden wir uns vorerst eine wohlgesonnte Rede anhören. “Ich bin der Staatspräsident von allen“, wird er sagen, aber dabei nicht vergessen, den “vernünftigen Bürger“ zu definieren.
Doch später wird er uns neue Volksentscheide vorlegen, die über existenzielle Fragen von der Einführung der Todesstrafe bis hin zu den Beziehungen zur EU urteilen werden. So soll das Ein-Mann-Regime mit einer Stimmenmehrheit immer weiter legitimiert werden.
Er wird zu einem Oberbefehlshaber werden, und von seinem Palast in Beştepe aus einen Krieg beschließen. Wann immer er möchte, wird er den Ausnahmezustand ausrufen.
Es wird keine Regierung mehr in dem Sinne geben, wie wir sie kennen. Der Staatspräsident wird seine Minister berufen und willkürlich aus dem Amt nehmen. Ja, er wird sogar Ämter ganz auflösen können.
Gedächtnisse betonieren
Seine neoliberale Politik wird er an den kurdischen Wähler*innen ausprobieren. Während er auf der einen Seite weiterhin auf eine harte Sicherheitspolitik setzt, wird er auf der anderen Seite die “neue Türkei“ durch den Stadtumbau und die Errichtung neuer Wohnkomplexe vorantreiben. Auf den Schutt zerstörter Gebäude wird er Beton kippen lassen, um unsere Gedächtnisse zu begraben, aber er wird niemals die tödlichen Keller verstecken können.
Die geehrten Stahlbeton-Herren der “neuen Türkei“ werden weiterhin unverschämt die großzügigen Spenden einstecken. Natürlich nur, wenn die von Regierung klein geredete Inflation von elf Prozent die Blase, in der sie leben, nicht zum Platzen bringt.
Und was ist für die Frauen zu erwarten? Der Staatspräsident, der im neuen System im Alleingang Gesetze erlassen kann, hat uns schon einen Hinweis gegeben: “Bevölkerungsplanung, Geburtenkontrolle.. Solche Themen können keinen Platz haben im Selbstverständnis der muslimischen Familie. Wir folgen dem, was unser Gott und was unser Prophet sagen.“ So einfach wird das aber nicht werden. Wir Frauen werden dem Lastwagen den Asphalt unter den Rädern wegziehen. Sein Reifen wird platzen.
Schilder umreißen und über rot fahren
Aber auch Erdoğan wird nicht aufgeben. Auch wenn es zu einem “Nein“ kommt, so wie es einige Umfragen vorhersehen, also wenn wir die Handbremse des Lastwagens ziehen, wird er weiterhin sein Ziel verfolgen. Solange er noch am Steuer sitzt, wird er neue Wege zu suchen.
Er wird über rot fahren, auf Gehwege rasen, er wird Schilder umreißen und wahrscheinlich sogar riskieren, in die Gegenspur zu lenken. Nach den Ereignissen in der vergangenen Woche, wissen wir nun, dass bei keinem der beiden Szenarien die inhaftierten Journalist*innen und Abgerodnete frei gelassen werden.
Die entscheidende Frage aber lautet: Werden wir aus dem Referendum wieder als “verzweifelte Minderheit“ hervorgehen? Oder als Kämpfer*innen? Um den Lastwagen früher oder später zu stoppen, bedarf es nämlich dem Zweiten.
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