■ AUS POLNISCHER SICHT: Zwei Pole(n)
So wie das Bild eines einzigen, homogenen Deutschlands nicht stimmt und nur als Klischee aus großer Entfernung entstehen kann, stimmt ein Bild Polens, das nicht zwischen mindestens zwei verschiedenen »Welten« unterscheidet, mit der polnischen Wirklichkeit nicht überein. Es stimmt nicht mehr, könnte man sagen — weil während der kommunistischen Herrschaft eine graue und bescheidene Einheitlichkeit die polnische Wirklichkeit bestimmte. Nach den gravierenden sozialen Unterschieden der II. Republik zwischen den Weltkriegen war die »Volksrepublik« ein Armenhaus der relativen Gleichheit, mit wenigen Ausnahmen der Apparatschiks und der Schwarz- beziehungsweise Graumarkthaie. Wohlhabend und ehrlich konnte man nur in Ausnahmefällen werden. Die Zeit der III. Republik hat— bei sinkendem Nationalprodukt — einer nicht unbedeutenden Gruppe Wohlstand, einer kleinen Minderheit sogar Reichtum gebracht. Der Kuchen ist um ein Drittel kleiner geworden und vielen — dem ersten Polen— geht es erheblich besser: wie geht es dem Rest, den meisten? Es geht ihnen dreckig. Wie dem Staat, der unter einer katastrophalen Steuermoral und unstabilen politischen Verhältnissen leidet und kein Geld hat, um das Notwendigste zu bezahlen: die Renten, die Krankenversorgung, die Polizei, die Schulen, ganz zu schweigen von Theater, Universitäten, Bibliotheken, Museen. Der Staat ist nämlich sehr streng gläubig: er glaubt an den Markt und dessen unsichtbare Hand. Diese importiert aber das Dosenbier aus Deutschland, die Autos aus der ganzen Welt und Lebensmittel aus der EG. Die inländischen Produzenten gehen Pleite, die Importeure und Zwischenhändler boomen, das Land exportiert kaum — ein neues Außenhandelsdefizit entsteht. Um die Katastrophe zu mildern, wurde der Zloty vor einigen Wochen um zwölf Prozent devaluiert, die Zölle stiegen, die importierten Waren wurden teurer. Gleichzeitig hat man in Berlin ein Wiederentstehen des »Polenmarkts« festgestellt: das zweite Polen versucht zu überleben. Auf der kulturellen Ebene ist die wirtschaftliche Entwicklung mit großen Einbrüchen verbunden, weil die Neureichen zumeist keine ehrgeizigen kulturellen Interessen haben. Wegen der weitverbreiteten Meinung, daß das Studium gar nicht weiterhilft (die meisten akademischen Arbeitsplätze bleiben in der Hand des Staates, was eine überproportionale Verelendung für die Arbeitnehmer bedeutet), sinkt die Zahl der Hochschüler. Fernsehen und Rundfunk erleben nach einer kurzen Phase der Hoffnung während der Mazowiecki- und Bielecki-Regierung eine Welle der Säuberungen nach altbewährter stalinistischer Art. Die allgemeine Tendenz der neuen nationalistischen Mehrheit ist mit der im 19. Jahrhundert in Rußland etablierten Orientierung der »Narodniki« (die Nationalen) zu vergleichen. Ihre Kontrahenten sind die Parteien Mazowieckis und Bieleckis, die mit »Zapadniki« (Westler) vergleichbar sind. Die polnische Presse schlägt Alarm: eine antiwestliche Haltung ergibt zwangsläufig eine Verschiebung Polens Richtung Osten — ohne Möglichkeit, mit Europa (und mit Ungarn und der CSFR) zivilisatorisch mitzuhalten. Piotr Olszowka
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