Zwangsräumungen in den USA: Wohnen auf Abruf
Zwei Raten für das Haus waren nicht bezahlt und schon drohte Angela Samuels die Zwangsräumung. Doch dann kamen die Aktivisten von Occupy.
MIAMI/FORT LAUDERDALE taz | "Wessen Haus?", skandieren mehrere Dutzend Menschen: "Angies Haus!" Ihre Rufe übertönen den Verkehrslärm, der Tag und Nacht vom Expressway über den Stadtteil Liberty City hallt. Passanten nähern sich, Autofahrer verlangsamen die Fahrt.
Ein Video zeigt die 45-jährige Angela Samuels, mit vor der Brust gekreuzten Armen lächelnd im Getümmel vor ihrem blassrosa gestrichenen Haus. Während sie mit den Polizisten spricht und mit Männern, die in einem schwarzen Mercedes vorfahren, schüttelt sie immer wieder energisch den Kopf. Dabei baumeln ihre großen gelben Ohrringe in dichtes Lockenhaar.
"Es war ein klasse Gefühl", sagt Angela Samuels sechs Wochen nach der Demonstration in ihrem Vorgarten: "Plötzlich war ich nicht mehr allein mit den Leuten, die mir mein Haus wegnehmen wollen." An jenem Dienstag Anfang Januar mussten die Polizisten und auch die Männer in dem Mercedes unverrichteter Dinge abziehen. Die angekündigte Zwangsräumung fand nicht statt.
Florida hat mit 11,9 Prozent eine der höchsten Raten bei Zwangsvollstreckungen in den USA. Zugleich verzeichnet der Bundesstaat mit 49 Prozent einen der höchsten Wertverluste von Immobilien seit Platzen der Immobilienblase 2007. Seither haben mehr als 4 Millionen Familien ihre Häuser und Wohnungen durch Zwangsvollstreckungen verloren. Mindestens 3,3 Millionen weiteren Haushalten steht dieses Schicksal bevor.
600.000 Hausbesitzer in Florida befinden sich derzeit "under water" ("unter Wasser": ihre Besitzer haben mehr Schulden, als die Häuser wert sind). Nachdem die Zwangsvollstreckungen 2011 leicht rückläufig waren, werden binnen Jahresfrist mehr Menschen als zuvor ihre Häuser verlieren. Seit Jahresanfang haben in den beiden am stärksten betroffenen Counties - Broward und Miami-Dade - wöchentlich 760 Zwangsvollstreckungen stattgefunden.
Der 26 Milliarden-Dollar-Deal zwischen US-Bundesregierung, fünf Großbanken und 49 Bundesstaaten (alle außer Oklahoma) wird national maximal 1 bis 2 Millionen Hausbesitzern "unter Wasser" helfen. Die meisten Zwangsvollstreckungen - insbesondere die bereits eingeleiteten - sind davon nicht betroffen. (dora)
Dank der Unterstützung durch die Occupy-Gruppen aus Miami und dem benachbarten Fort Lauderdale kann Angela Samuels das Drei-Zimmer-Haus behalten, in dem sie fast ihr ganzes Leben verbracht hat. Draußen flattert ein Transparent, das die Demonstranten hinterlassen haben. "Wir bleiben", steht dort.
Aber es ist ein Wohnen auf Abruf. Ihre Möbel hat Angela Samuels in einem Lager eingemietet. In den drei rot, grün und lila gestrichenen Zimmern ihres Hauses befinden sich nur noch Matratzen, auf denen sie, ihre erblindete Schwester, eine Nichte und ein Neffe schlafen. An einer kahlen Wand im leeren Wohnzimmer klebt die "Final Notice of Eviction". Der gerichtliche Bescheid, dass das Räumungskommando jederzeit kommen kann.
Der Vater von Angela Samuels, ein Bauarbeiter, hatte das Haus 1970 gekauft. Für 17.000 Dollar. Damals befand sich der Stadtteil im Norden Miamis im Wandel. Die weißen Bewohner verließen Liberty City, schwarze Familien kamen nach. Afroamerikaner, wie die Samuels, und Einwanderer aus der Karibik. In ihrem neuen Haus zogen die Samuels sieben Kinder groß.
Betrügerische "Lösung"
Vor gut zehn Jahren starben kurz nacheinander die Eltern von Angela Samuels. Außerdem eine Schwester, ein Bruder. Die Mutter hatte kurz vor ihrem Tod noch zwei kleine Hypotheken aufgenommen. Sie wollte das Haus in gutem Zustand hinterlassen. Mit einer Hypothek reparierte sie das Bad. Mit der anderen ließ sie die Fassade streichen.
Angela Samuels erbte das blassrosa Haus. Aber sie übernahm auch die Verantwortung für zwei nicht gezahlte Raten. Für die Bank war das Grund genug, ihr mit Zwangsversteigerung zu drohen. Angela Samuels ließ sich auf eine "Lösung" ein, die ihr ein Kreditgeber unterbreitete. Es war das Jahr 2005. Sachverständige schätzten den Wert ihres Hauses auf eine Viertelmillion Dollar. "Alle wollen in Florida wohnen", sagten sie ihr, "der Immobilienwert kann nur steigen."
Der Kreditgeber belastete ihr Haus, auf dem zuvor 20.000 Dollar Schulden gelegen hatten, mit einer Hypothek von 136.000 Dollar. Im Frühling 2011, nachdem die Arbeitslosigkeit in Florida auf über 11 Prozent geklettert war und die Krankenschwester Angela Samuels nur noch eine Teilzeitarbeit fand, konnte sie die monatlichen Zahlungen nicht mehr leisten. Die Bank verkaufte ihr Haus an die Männer aus dem schwarzen Mercedes. Diese zahlten 27.000 Dollar.
"Sie haben meine Trauer und Verwirrung ausgenutzt", sagt Angela Samuels. Lange versucht sie, allein aus dem betrügerischen Geschäft herauszukommen. Vergeblich. Dann sammelt sie Geld bei Freunden und Verwandten, um ihr eigenes Haus zurückzukaufen. Es reicht nie. "Früher war ich Mittelschicht", sagt Angela Samuels, "heute bin ich arm." Als die Occupy-Bewegung im Oktober eine Zeltstadt in Miami errichtet, sucht sie dort Hilfe.
Drei Minuten pro Fall
Im vergangenen Jahr hat der Bundesstaat Florida verrentete Richter in den Dienst zurückgerufen. Und Familienrichter in neu geschaffene Abteilungen versetzt, wo sie nichts anderes tun, als Zwangsvollstreckungen abzuwickeln. Es ging um die Beschleunigung von tausenden Verfahren, von denen die meisten in zwei südlichen Counties spielen: Miami-Dade und Broward. Dort sind Mitte des vergangenen Jahrzehnts die Immobilienpreise stärker in die Höhe geschossen als irgendwo sonst in den USA. Und dort sind sie seit 2007 dramatisch abgestürzt.
Seit Juli 2011 leitet Richterin Marina Garcia-Wood die Abteilung für Zwangsvollstreckungen im Broward-County-Gericht in Fort Lauderdale, der Nachbarstadt von Miami. An diesem Donnerstag im Februar stehen 170 Fälle auf dem Terminplan, der neben der Tür zu Gerichtssaal 519 hängt. Sämtliche großen US-Banken kommen auf der Liste vor sowie ein Dutzend Mal auch die Deutsche Bank.
Rechnerisch hat Richterin Garcia-Wood für jeden Fall rund drei Minuten Zeit. Manchmal reicht das, um Hausbesitzern eine Gnadenfrist zu gewähren. Das geschieht, wenn sie der Richterin glaubhaft machen können, dass eine Bank Fristen nicht respektiert, Kopien statt Originalunterschriften vorgelegt oder Fehler in Verträge geschrieben hat.
Michael Barbere hat bei einem seiner Gerichtstermine in Fort Lauderdale von der örtlichen Occupy-Gruppe erfahren. Ein Mitglied saß als Beobachter im Gericht und gab ihm ein Flugblatt. Michael Barbere schöpft neue Hoffnung. Obwohl der 50-Jährige bereits zu dem Zeitpunkt überzeugt ist, dass er seinen Bungalow verlieren wird. Eine Anwältin hatte ihm gesagt: "Entweder wir kämpfen um das Haus. Mit dem Risiko, es sofort zu verlieren. Oder wie spielen auf Zeit."
Michael Barbere entschied sich für Letzteres. Er hat drei behinderte Kinder. Am 19. Juni nun muss er das Haus verlassen, das ihm sein Vater 1998 zur Hochzeit geschenkt hat. Wohin er anschließend gehen wird, weiß er nicht. Er hat einen Bruder im Blumenhandel in New York, einen anderen im Wettgeschäft in Las Vegas. Vielleicht kann er bei einem von ihnen einsteigen.
Vor seinem Bungalow in Sunset im Westen von Fort Lauderdale steht ein glänzender schwarzer Jeep. Der Rasen ist akkurat gemäht. Die Nachbarn - ein Steuerberater und ein Restaurantbesitzer - ahnen nicht, dass der Familie Barbere das Wasser bis zum Hals steht. "Florida ist eine Durchgangsstation", sagt Michael Barbere, "die Leute haben wenig Kontakt untereinander." Er selbst zog wegen der gut bezahlten Aufträge als Bühnenarbeiter hierher.
Doch dann kamen die hohen Kosten für die Behandlung seiner Kinder. Dann die Wirtschaftskrise und der Auftragsrückgang im Showbusiness. Michael Barbere nahm eine Hypothek auf sein Haus auf. Bezahlte die Ärzte. Und eröffnete einen Sandwich-Laden, der nicht lief. Im vergangenen Jahr brachte er weniger als 11.000 Dollar nach Hause, nicht annähernd genug für die monatlichen Ratenzahlungen von 1.900 Dollar. Er versuchte eine Umschuldung. Die Bank lehnte ab.
"Keine Chance gehabt"
Inzwischen ist Michael Barbere mit 185.000 Dollar plus 75.000 Dollar Gebühren verschuldet. 2006 wurde der Wert seines Hauses auf 600.000 Dollar geschätzt. Heute kann er froh sein, wenn er genug kriegt, um schuldenfrei herauszukommen. "Die Banken konnten tun, was sie wollten", sagt Michael Barbere bitter. "Und als die Blase platzte, hat der Staat ihnen Milliarden zu ihrer Rettung gegeben, ohne Zinsen zu verlangen." Er musste 7,5 Prozent Zinsen für seine Hypothek zahlen. Wenn Michael Barbere seine Geschichte erzählt, lächelt er immer wieder. "Ich habe keine Chance gehabt", sagt Michael Barbere. Erzählt, dass er "viele Pfunde" zugelegt hat.
Das Jahr 2012 wird für verschuldete Hausbesitzer im südlichen Florida noch schlimmer werden als die vorausgegangenen. Darin sind sich alle einig: die Makler, die mehr Häuser verkaufen als je zuvor und für jedes 6 Prozent des Preises kassieren. Die Anwälte, deren Wartezimmer voller Opfer von Zwangsvollstreckungen sind. Und die Banken, in deren Schubladen zigtausende Zwangsvollstreckungsverfahren liegen.
"Wenn wir uns nicht wehren, werden wir zermahlen", sagt jemand in Angela Samuels leergeräumtem Wohnzimmer. Ein Dutzend Aktivisten aus der Occupy-Bewegung in Fort Lauderdale und Miami sind gekommen, um nächste Aktionen zu besprechen. Die Occupy-Camps sind verschwunden, jetzt konzentriert sich die Bewegung in Florida auf Aktionen gegen Zwangsräumungen. Wie an vielen Orten der USA.
In einem Radius von eineinhalb Meilen rund um das blassrosa Haus von Angela Samuels sind 200 weitere Häuser in Liberty City räumungsbedroht. Die Aktivisten wollen mit den Betroffenen sprechen. Wollen ihnen sagen, dass sie sich weder verstecken noch schämen müssen. Und dass es die beste Hilfe ist, wenn Nachbarn sich zusammentun. Jeff Weinberger von der Occupy-Gruppe Fort Lauderdale spricht von Telefonketten: "Damit die Polizei bei jedem Räumungsversuch auf 50 Demonstranten stößt."
"Angies Haus" ist für ihn "nur der Anfang". Als Nächstes wollen er und seine Freunde Liberty City zur räumungsfreien Zone machen.
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