Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg: Das Lager in der Heide
„Ich will etwas Nützliches tun“, sagt Inessa aus Moskau. Sie sucht mit anderen Freiwilligen nach Spuren des Kriegsgefangenenlagers Zeithain.
ZEITHAIN taz | Ginster, Pappeln, – die Heidelandschaft dehnt sich aus, so weit das Auge reicht. Der Boden ist uneben. Lange Zeit rollten Panzer über dieses Land. Die sowjetischen Streitkräfte, die in der DDR stationiert waren, nutzten es als Panzerübungsplatz. 1992 zogen sie ab. Jetzt kreist ein Raubvogel am Himmel. Die Sonne knallt. Mit Hüten und Sonnencreme versuchen die Freiwilligen, sich vor ihr zu schützen. Ihre Arme sind von Mücken zerstochen.
Trotzdem sind sie guter Dinge: Nicola aus Großbritannien, die in der Finanzbranche arbeitet und ihren Jahresurlaub genommen hat, um an diesem Workcamp teilzunehmen, die Studentinnen Sara aus Italien und Ceren aus der Türkei, der Gymnasiast Aleksandar aus Serbien. Er sagt: „Wir müssen uns an die Vergangenheit erinnern, damit sie sich nicht wiederholt.“ Mit Sägen, Hacken und Wasserflaschen ausgerüstet gehen sie nach Nordwesten. Die ehemalige Lagerstraße von Gebüsch zu befreien, lautet eine ihrer Aufgaben.
Der einstige Panzerübungsplatz gehört heute zum Naturschutzgebiet Gohrischheide und Elbniederterrasse Zeithain. Die Gemeinde Zeithain mit 5.900 Einwohnern liegt im Norden Sachsens. Mehr noch als das Naturschutzgebiet mit seinen Fledermäusen und Vögeln interessiert die Freiwilligen, was hier vor 70 Jahren geschah.
Das Lager: Im Frühsommer 1941 ordnete das Oberkommando der Wehrmacht an, 60 Lager für sowjetische Kriegsgefangene einzurichten, 14 davon auf deutschem Territorium. Jedes Lager sollte ca. 30.000 Männer aufnehmen. Im Juli 1941 kamen die ersten 2.000 Soldaten am Bahnhof Jacobsthal nahe Zeithain an.
Die Gedenkstätte: 1977 begannen Schüler aus der Umgebung, die Lagergeschichte aufzuarbeiten. 1985 entstand die erste Ausstellung, die jedoch italienische und polnische Gefangene verschwieg. Nach der Wende wurde sie von Ehrenamtlichen betreut. Seit 2002 gehört die Gedenkstätte Zeithain zur Stiftung Sächsische Gedenkstätten.
In Zeithain befand sich von 1941 bis 1945 ein Kriegsgefangenenlager. Rund 32.000 Menschen starben an Tuberkulose, Fleckfieber, an Unterernährung und Entkräftung. Die meisten waren sowjetische Soldaten. Hinzu kamen Italiener, Polen und andere.
Reste von Stacheldraht
Die Baracken, in denen sie hausten, wurden nach dem Krieg abgerissen. Von den Holzhäusern ist nichts geblieben. Hier und da wurden inzwischen die Fundamente der Steingebäude freigelegt. Reste von Stacheldraht, Schuhe und andere Artefakte haben Freiwillige in den vergangenen Jahren gefunden. Seit 2003 gibt es jeden Sommer ein Workcamp. Organisator ist der Service Civil International (SCI), der Menschen zu Hilfs- und Friedensdiensten entsendet. In Zeithain wollen die Freiwilligen dabei helfen, Spuren des Kriegsgefangenenlagers sichtbar zu machen. Dafür arbeiten sie werktags von 9 bis 16 Uhr ohne Bezahlung. Verpflegung und Unterkunft sind kostenlos, dazu gibt es ein Freizeitprogramm.
17 Menschen zwischen 18 und 35 Jahren haben sich in diesem Sommer angemeldet. Manche wollten mal nach Deutschland reisen, das Thema des Camps war dabei eher zweitrangig. Die meisten interessieren sich jedoch für Geschichte. Inessa, Studentin aus Moskau, sagt: „Ich will etwas Nützliches tun.“
Der Historiker Jens Nagel ist Mitarbeiter der Stiftung Sächsische Gedenkstätten und leitet die Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain. Er will, dass künftig „ein historischer Lehrpfad mit Schautafeln“ an das Lager erinnert. Dieser soll durch einen kleinen Teil des Naturschutzgebietes führen. Dort wurden die meisten Überreste des Lagers gefunden. Die Tafeln sollen etwa auf die Lagerstraße, die Entlausungsbaracken und die Unterkünfte der sowjetischen Soldaten hinweisen. Ständiges Personal sei nicht nötig, meint Nagel.
Joseph Goebbels zu Besuch
Ohnehin gibt es außerhalb des Naturschutzgebietes eine Ausstellung und einen Ehrenhain mit Gräbern, der in der DDR-Zeit angelegt wurde. Auch er wird von Helfern des SCI gepflegt. Nagel hat auch schon mit der Aktion Sühnezeichen, dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und mit Schülern aus der Region gearbeitet.
In der Ausstellung laufen historische Filmaufnahmen: die sowjetischen Kriegsgefangenen von Zeithain, aufgenommen am 26. August 1941. An diesem Tag besuchte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels das Lager. Quälend langsam gleitet die Kamera über die schmutzigen Jacken der Gefangenen, die kaputten Schuhe, über junge Gesichter und die Münder, die eine karge Ration verschlingen.
Goebbels notierte in seinem Tagebuch: „Das Gefangenenlager bietet ein grauenhaftes Bild. Die Bolschewisten müssen zum Teil auf der Erde schlafen. Es regnet in Strömen. Sie haben zum Teil kein Dach über dem Kopf; soweit sie es haben, sind die Hallen an den Seiten noch nicht abgedeckt.“ Baracken und Steinhäuser errichteten die Gefangenen erst nach und nach. Sofern sie nicht schwer krank oder verwundet waren, wurden sie von Zeithain aus weitergeschickt zur Arbeit im Nazireich.
Der Film sollte den „bolschewistischen Untermenschen“ vorführen. Doch die Naziführung sah davon ab, ihn in der „Wochenschau“ zu präsentieren. Die Gefangenen wirkten zu menschlich. Goebbels schrieb in seinem Tagebuch: „Täglich sich in diesem Gestank aufhalten, mit solchen Typen von Menschen umgehen, sie betreuen und bewachen, das ist auch keine schöne Kriegsaufgabe.“ Der Film zeigt, wie er den „Sonderpferch“ besuchte. Unter freiem Himmel im Morast stehend verbüßten dort Soldaten ihre Strafe. Anlässlich von Goebbels’ Besuch dachte man darüber nach, ihr Essen einzusparen und sie zu erschießen.
Der „Sonderpferch“ wird sichtbar
Der Lehrpfad könnte auch den „Sonderpferch“ sichtbar machen. Barbara Schulz weiß inzwischen, wo er sich befand. Die Architektin arbeitet im Auftrag der Stiftung Sächsische Gedenkstätten seit 2003 mit den Freiwilligen. Jetzt weist sie weit über die Heide: „Seht nur, wie groß das Lager war.“ Nicola, die Finanzfachfrau aus Großbritannien, ist schockiert. Das Elend und die schöne Landschaft, das passe nicht zusammen.
Mit Sara und Ceren beugt sie sich über eine Mappe von Barbara Schulz. Sie hat ein Aufbaustudium Denkmalpflege absolviert und betreibt hier in Zeithain Bauarchäologie. In der Mappe liegen Dokumente, die sie mit Unterstützung des Sächsischen Landesamtes für Archäologie zusammengetragen hat. Da sind Fotos, die die Nazis angefertigt haben, etwa Innenaufnahmen der Entlausungsbaracken. Da sind Luftaufnahmen der Alliierten von Frühjahr 1945.
Und schließlich Bilder von dem, was die Erde seit 2003 preisgegeben hat. Diese Fragmente führt Schulz zu einem Puzzle zusammen: Wo genau befanden sich in den Entlausungsbaracken die Wasserbecken, in die jeder Soldat gesteckt wurde? Mit den Freiwilligen hat sie Spuren im Fundament entdeckt.
Sowjetische Kriegsgefangene litten doppelt
Barbara Schulz sieht sich als Anwältin einer Personengruppe, welche „unter dem Krieg doppelt gelitten hat“ – sowjetische Kriegsgefangene. Nach Stalins Propaganda gab es sie gar nicht, wer dem Feind in die Hände fiel, galt als Kollaborateur. Deshalb unternahmen sowjetische Behörden denkbar wenig, um das Schicksal von Vermissten aufzuklären. Und deshalb wurden viele ehemalige Kriegsgefangene 1945 in sowjetische Arbeitslager deportiert.
Erst nachdem Josef Stalin im März 1953 gestorben war, kamen sie frei. Etliche litten unter Berufsverbot, durften nicht studieren, wurden schikaniert. Erst unter dem russischen Präsidenten Jelzin wurden die Männer Mitte der neunziger Jahre vollständig rehabilitiert.
Sowjetische Archive bewahrten die Karteikarten auf, die die Wehrmacht über die Kriegsgefangenen angelegt hatte. Darauf standen Namen, Geburts- und Sterbedaten und weitere Angaben. Erst seit 1996 geben die Archive diese Informationen frei. Seit dem Jahr 2000 werden sie unter Federführung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten digitalisiert. Rund 900.000 Datensätze sind schon fertig, sie stehen auf der russischen Webseite www.obd-memorial.ru.
„Aus diesen Listen erfahren manche Familien erst jetzt, was aus ihren Vätern und Großvätern geworden ist“, sagt Barbara Schulz. Das Foto auf der Karteikarte der Wehrmacht ist manchmal das einzige Bild, das von dem Menschen geblieben ist. Dank dieser Karten kann die Gedenkstätte Zeithain zuordnen, wer wo beerdigt wurde. Auf ihrer Homepage hat sie die Namen der Opfer veröffentlicht. Auf dem Gräberfeld, das zum Ehrenhain aus DDR-Tagen gehört, wehen weiße Fahnen mit den Namen und den Lebensdaten, viele der Männer wurden nicht älter als zwanzig Jahre. Ihre Familien können jetzt zu dem Ort fahren, wo sie umgekommen sind.
Etwa hundert Angehörige sind 2012 gekommen
Jens Nagel erzählt, dass er 2012 etwa 100 Angehörige betreut hat. „Die meisten melden sich per Mail.“ Manche kommen spontan, wenn sie Deutschland besuchen. Viele Angehörige wollen die Reste des Lagers sehen. Der Lehrpfad würde auch ihnen helfen. Das Areal für den zukünftigen Lehrpfad gehört dem Staatsbetrieb Sachsenforst.
Das dazugehörige Naturschutzgebiet wird vom Umweltamt des Landkreises Meißen verwaltet. Auf Anfrage teilte es mit, dass es über den Lehrpfad mehrmals mit der Stiftung Sächsische Gedenkstätten gesprochen habe, „wobei aus naturschutzrechtlicher Sicht die Möglichkeit gesehen wird, einen mit den Belangen des Naturschutzgebietes vereinbarten Lehrpfad einzurichten“. Allerdings liege kein Antrag vor.
Naturschützer könnten einwenden, dass die Besucher die Tiere störten. Doch Jens Nagel erwartet keine Massen. Seit 2003 haben die Freiwilligen zum Teil Tausende von Kilometern zurückgelegt, um in Zeithain zu arbeiten. Die meisten stammen aus Osteuropa, Spanien und Italien. Ein Spanier erzählte Jens Nagel: „Bei uns werden die Verbrechen der Franco-Diktatur totgeschwiegen.“ Zwei Japaner flogen nach Deutschland, weil sie wissen wollten, wie das Land mit seiner Vergangenheit umgehe. Japan würde sich nicht ausreichend mit seinen Kriegsverbrechen auseinandersetzen. Jens Nagel sagt: „Von uns hatten sie einen guten Eindruck.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch