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Zwang zum Gespräch

■ Wer die Regelstudienzeit überschreitet, muß sich beraten lassen / Sanktionen drohen noch nicht, aber Skepsis bleibt

Schon zu Schulzeiten waren sie verhaßt: die blauen Briefe. Damals teilten sie mit, daß die Versetzung gefährdet, das Leistungsziel nicht erreicht sei. Wer glaubte, dieses Trauma mit dem Abitur hinter sich gelassen zu haben, sieht sich nun eines Besseren belehrt: An 15.000 Studierende ließ Johann Gerlach, Präsident der Freien Universität, mit den Rückmeldeunterlagen zum Wintersemester blaue Briefe verschicken. Die Empfänger haben, gemessen am Zeitgeist, das Leistungsziel ebenfalls nicht erreicht: Sie studieren immer noch, bereits zwei Semester mehr, als die Regelstudienzeit vorsieht.

Gerlach folgte mit der Verschickung seiner Massendrucksache einer Änderung des Berliner Hochschulgesetzes, die im Dezember letzten Jahres vom Abgeordnetenhaus beschlossen wurde. Danach müssen die Universitäten bis zum kommenden Sommersemester ihre Studien- und Prüfungsordnungen so gestalten, daß ein Studium in der Regelstudienzeit bewältigt werden kann. Gleichzeitig soll eine Zwangsberatung für diejenigen eingeführt werden, die es dennoch nicht geschafft haben.

Und genau zu dieser wurden die 15.000 Empfänger des blauen Briefs aufgefordert. „Es kann nicht als unerhörte Zumutung gelten, nach längerer Studienzeit zur Teilnahme an einer Prüfungsberatung verpflichtet zu werden“, so die im Brief geäußerte Einschätzung Gerlachs, der damit die Auffassung der Parlamentarier teilt.

Die studentischen Vertreter sehen es, wie nicht anders zu erwarten, anders: „Im Großen und Ganzen geht es darum, Druck auf die Studierenden auszuüben, endlich fertig zu werden, oder aber einzusehen, daß sie/er an dieser Universität am falschen Ort sei“, so die Einschätzung des Allgemeinen Studenten-Ausschusses (Asta) im flugs publizierten „Kleinen Zwangsberatungs-Berater“.

In diesem wird auch gefragt, was einen Großteil der Kritiker aufhorchen ließ und gegen die neue Regelung aufbrachte: „Geht es also doch um die Möglichkeit, exmatrikulieren zu können, also die Möglichkeit, die mit den Studierenden in den höheren Semestern schlecht aussehenden Statistiken zu bereinigen?“ Bislang kann davon nicht die Rede sein. Die Zwangsexmatrikulation sieht das Berliner Hochschulgesetz nur dann vor, wenn sich ein Student der Beratung entzieht.

Hingehen sollten die Angeschriebenen also auf jeden Fall, da sind sich Uni-Leitung und FU- Asta ausnahmsweise einig. Es seien schließlich keine Konsequenzen mit der Beratung verbunden, wundert sich über die Aufregung Bodo von Greiff, Privatdozent am Fachbereich Politikwissenschaft, wo die obligatorische Beratung bereits vorzeitig eingeführt wurde. „Das einzige, was droht, ist, daß ein Student gezwungen ist, über sich nachzudenken.“

Er sieht vielmehr die Chance, daß sich Studenten endlich einmal mit Hochschullehrern über berufliche Perspektiven, die Studiensituation oder persönliche Probleme unterhalten können. „Sie sind endlich einmal nicht mit dem geballten Desinteresse der Massenuniversität konfrontiert“, so von Greiff gegenüber der taz. So sahen es auch einige Studenten am Otto-Suhr-Institut, die in der Pflicht auch eine Gelegenheit zum Gespräch sahen, in dem sich ein Dozent unterhalten muß – ob er will oder nicht.

Doch obwohl es aus dieser Sicht aussieht, als ob die Abgeordneten einen Zwang, zu beraten für die Professoren beschlossen hätten, bleibt für viele ein schaler Geschmack: Denn die Briefe erreichten nun einmal Studenten, nicht Lehrende, zudem nur die sogenannten Langzeitstudenten.

Die deutliche Dominanz des Zwangs gegenüber der Hilfestellung bewegte auch den Akademischen Senat der Technischen Universität, gegen die Einführung der Zwangsberatung zu stimmen. Dieser Beschluß verstößt jedoch gegen das Hochschulgesetz, für TU- Präsident Dieter Schumann Grund genug, den Beschluß aufzuheben. „Der Präsident wird in die Sitzung am 26. Oktober erneut seinen eigenen Entwurf in den Akademischen Senat einbringen“, so TU-Pressesprecherin Kristina Zerges zur taz; dieser sehe die Einführung der Zwangsberatung zum 1. April nächsten Jahres vor.

An der Humboldt-Universität ist selbst die Uni-Leitung unter Präsidentin Marlis Dürkop vom Sinn der Zwangsberatung für Regelstudienzeit-Überschreiter nicht überzeugt. „Vor allem die Studierenden selbst haben gemerkt, daß ein Gespräch mit einem Professor oft nicht ausreicht“, meint Susann Morgner, Pressesprecherin Unter den Linden. Das gelte besonders dann, wenn wirkliche Probleme bestünden, die es zudem keineswegs nur bei denen gebe, die schon in einem höheren Semester sind. „Der Sache“ müsse höhere Priorität eingeräumt werden, so die Pressesprecherin vage, dann aber deutlich: „Wir wollen nicht mit den blauen Briefen arbeiten.“ Vielmehr seien bereits während der jetzt abgeschlossenen Umstrukturierung der Fakultäten feste Stellen für Studienberater geschaffen worden. An diese könnten sich dann alle Studierenden wenden, nicht nur die sogenannten Langzeitstudenten. Und um genau diesen Begriff dreht sich auch ein Großteil des Streits. Denn während die eigentlich beschlossene Maßnahme, daß sich nämlich Studis und Profs zusammensetzen müssen, eher unspektakulär ist, ist die Diskussion um die Langzeitstudenten um so brisanter. Ausgelöst durch den zunehmenden Sparzwang, hat die öffentliche Meinung in ihm einen Schuldigen ausgemacht. Das Schreckgespenst des Bummelstudenten macht die Runde, der allerdings über famose Fähigkeiten verfügt: Einerseits ist er längst nicht mehr an der Uni, erschleicht sich daher verbilligte Fahrkarten und bessere Versicherungskonditionen, andererseits trägt er erheblich zur Überfüllung in Hörsälen und Bibliotheken bei. Einerseits enthält er dem Arbeitsmarkt seine auf Staatskosten gebildete Arbeitskraft vor, andererseits vernichtet er feste Arbeitsplätze, weil er vollwertige Jobs zu niedrigeren Löhnen annimmt. Wer lange studiert, ist enormem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt – nun auch in der Zwangsberatung.

Eigentlich geht's gar nicht um das Gespräch

Peter Grottian, Professor für Politikwissenschaft, resümiert nach der Auswertung der Beratungsergebnisse am Fachbereich: „Noch niemals in der Geschichte der Bundesrepublik mußten sich Studierende in diesem Ausmaß als faul- lästig-ungewollte Masse diskriminieren lassen, wurden die Peitschen für Langzeitstudierende so geschwungen und gleichzeitig die Türen des Arbeitsmarktes so hermetisch verschlossen.“ Doch Grottian, der sich gerne als Anwalt der Studierenden sieht und nicht müde wird, die geringe Gesprächsbereitschaft seiner Kollegen zu kritisieren, bot den Zwangsberatenen bei seiner Umfrage den einen Grund für die Dauer erst gar nicht an: daß das Studium einfach Spaß macht. Christian Arns

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