Zusammenhalt über die Zeiten

In den Lebensläufen der fünf Geschwister Eisenfeld bricht sich die Geschichte der DDR: trotz Verhaftungen und Ausbürgerungen hielt die Familie zusammen  ■ Von Michael Trabitzsch

Ein Familienfest am Siethener See, einige Kilometer nördlich von Berlin. Auf dem Bootssteg ist eine improvisierte Tafel aufgebaut, es gibt reichlich zu essen, die Atmosphäre ist entspannt.

Die Eisenfelds, das sind fünf Geschwister, seit langem Berliner, aber aufgewachsen in der Nachkriegszeit in Falkenstein, einem kleinen Ort im sächsischen Vogtland. Interessiert, bereit, für Ideale sich zu strecken, und vermutlich darum hineingeraten in ein Räderwerk aus Verdächtigungen, Intrigen, Demütigungen und Bedrohungen.

Drei von ihnen mußten die DDR verlassen, 1975 ging der erste. Die Familie war zerrissen, verlor sich dennoch nie aus den Augen, hielt, es ist fast romantisch, ohne zu zweifeln zusammen.

Man kann nicht sagen, daß sie diese Jahrzehnte unbeschadet überstanden hätten. Einer saß in Bautzen, einer wurde krank. Sie wurden entlassen, überwacht und behindert. Aber vor dem Durchhaltewillen und dem Wahrheitsanspruch der Eisenfelds erwies sich nicht die Familie als fragmentarisch, sondern der Staat.

Der Radiosprecher

Der Älteste, Hans, war gerade 15, als der Vater aus dem Krieg zurückkehrte. Der war ein kleiner Parteigenosse gewesen, war aber einer der wenigen, die sich schuldig und verantwortlich fühlten. Freiwillig zog er frühmorgens im Mai 1945 in die Kreisstadt Plauen, um beim Wiederaufbau zu helfen.

Einige Tage später wurde er von den Russen abgeholt und blieb drei Jahre in den Lagern verschwunden. Als er zurückkam ins Vogtland, war er physisch und psychisch gebrochen.

Die Mutter war unter dem Druck der Verhältnisse krank geworden und Hans damit Familienvorstand; das war zu früh und eine zu große Verantwortung. Die Familie war arm, also mußte Gemüse im Garten angebaut werden, auch Tabak, dazu wurden Kohlen geklaut mit den kleinen Brüdern. Und die mußten auch verköstigt und bei den Schularbeiten beaufsichtigt werden.

Hans E. konnte nicht studieren, weil der Vater kein Arbeiter war. Er wäre gerne Kinderarzt geworden, aber Abhauen über die grüne Grenze kam nicht in Frage; da war die Verantwortung. Statt dessen wechselte er 1950 als Eleve an den Berliner Rundfunkchor, wurde einige Jahre später Nachrichtensprecher und betreute ein Musikprogramm.

Hans E. zog in Berlin mit einem Mann zusammen, was damals ungewöhnlich war. Aber die Atmosphäre in den Künstlerkreisen war vor dem Mauerbau einigermaßen offen, man konnte den Ressentiments ausweichen und zwischen Ost- und West-Berlin hin und her wechseln. Dann, nach dem Bau des „Schutzwalls“, war die Versuchung zu fliehen groß. Wieder war es die Verantwortung gegenüber den jüngeren Geschwistern, die ihn hielt.

Er und sein Freund zogen sich im Laufe der Jahre immer weiter zurück und bildeten die „Nische“ aus, dieses so schwer begreifbare Spezifikum des DDR-Alltags. Hans wurde der Lehrer und Berater seiner Schwester, als diese zur großen Opernsängerin aufstieg. Man ließ ihn in Ruhe. Auch als die kleinen Brüder gegen den Staat opponierten, hatte er keine Nachteile.

Aber: es passierte auch nicht mehr viel. Die Familie wurde so etwas wie die Außendimension der „Nische“ – zur Welt hin offen zu sein. So gibt es kein versäumtes Leben, keine Bitterkeit, eher das Gegenteil: die uneingeschränkte Offenheit, sich nach der Wende nochmals auf ganz andere Verhältnisse einzulassen.

Die Kammersängerin

Brigitte Eisenfeld, die Jüngste der Familie, wurde berühmt. Durch Zufall und durch Neigung kam sie zum Singen und wurde an der Hochschule in Berlin angenommen. Ihr Bruder Hans wurde Berater, Lehrer, Manager neben ihrer Ausbildung und sorgte dafür, daß sie nicht im Chor unterging, sondern eine Solokarriere begann. Sie wurde geprägt durch die Felsenstein-Schule, durch den Gedanken des Ensemble-Theaters, in dem das Singen der höhere oder höchste Ausdruck des Spiels ist.

Sie ging nach Chemnitz, gewann einige Sänger-Wettbewerbe und erhielt 1974 einen Vertrag für die Staatsoper Berlin. Hier war es schwer für sie. Man legte sie auf bestimmte Charaktere fest und verweigerte ihr die großen dramatischen Rollen.

Man unterschlug Gastspiel-Angebote von großen westlichen Opernhäusern, die ihr zu einer internationalen Karriere fehlten. Dennoch war sie in der DDR berühmt. Das Fernsehen hatte sie als Moderatorin einer beliebten Operettensendung geholt.

Der Maler

Auch Ulrich Eisenfeld wollte studieren und durfte es nicht. So wurde er Hauer unter Tage im Steinkohlenbergbau in Zwickau. Für ihn war es eine wichtige Zeit; hier unten entsprach, für einige Jahre immerhin, die Solidarität unter den einzelnen dem proklamierten Ideal der Gesellschaft.

Unter Tage begann er zu skizzieren, man fand das talentiert. Der Betrieb wählte ihn aus und delegierte ihn an die Arbeiter-und- Bauern-Fakultät nach Freiberg. Später studierte er Malerei an der Kunsthochschule Dresden und lebte ein gutes Leben.

Er bewegte sich in der Künstlerszene, hatte etwas vom Bohemien, und fing irgendwann an, die Landschaft den Menschen vorzuziehen. Er suchte sich Ateliers außerhalb von Dresden, und es entstanden ganze Serien von Bildern. Die handelten ihm den absurden Vorwurf von Gutachtern ein, er behandle antisozialistische Inhalte. Die Begründung: seine Felder seien zu kleinteilig, zu dunkel, zu erdig, die Farben zu gedeckt. Dagegen werde in der DDR eine Großraumwirtschaft verwirklicht, die nur frohe Menschen kenne und optimistische Farbtöne.

Aus der Akte der Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, 15. 5. 1974: „Ein Bruder der E. ist in Dresden freiberuflich als Maler tätig und wird von der KD Dresden unter operativer Kontrolle gehalten. Er vertritt einen negativen politischen Standpunkt. In seinen Werken widerspiegeln sich antisozialistische und dekadente Auffassungen. Durch operative Maßnahmen wurde in der Vergangenheit die Veröffentlichung seiner Werke verhindert.“

1981 verließ Ulrich E. daraufhin das Land und lebt seitdem in West- Berlin. Dresden richtete ihm nach der Maueröffnung eine Ausstellung seiner Landschaften aus. Es war eine späte Genugtuung und sogar eine Art Heimkehr, denn in Berlin hatte er sich nie richtig heimisch gefühlt.

Der Ökonom

„Halle, den 3. 4. 1968. Der Genannte war von 1962–67 bei der Deutschen Notenbank als Finanzökonom beschäftigt. Von seiten des Betriebes wurde sein Arbeitsverhältnis gekündigt, da er eine pazifistische, teils negative Einstellung hatte und nicht für würdig befunden wurde, im Staatsapparat zu arbeiten. Der E. war nicht mit seiner Entlassung einverstanden und beschwerte sich beim Arbeitsgericht.“

Bernd Eisenfeld kam nach dem Studium nach Schkopau, um als Ökonom Bilanzen und Kreditbedarf des Buna-Kombinats zu prüfen. In dem Zusammenhang führte er eine Untersuchung über die Exportrentabilität chemischer Produkte ins kapitalistische Ausland durch.

„Die Untersuchung war ziemlich deprimierend, d. h. 70 Prozent der Produkte waren devisenunrentabel, also die Kosten, um das Produkt zu erstellen, waren höher als das, was ich damit erlöste.“

Wichtige politische Entscheidungen der DDR-Ökonomie waren damals für die Fachleute nicht mehr nachvollziehbar. Der „Chemievertrag“ etwa zwang der DDR die chemischen Grundstoffe der UdSSR auf, die oft mangelhaft waren und zu hohem Verschleiß führten.

Bernd E. verweigerte den Waffendienst und kam zu den „Bausoldaten“, bei denen er viele traf, die vom Staat seine demokratischen Prinzipien offen einforderten, konstruktiv und solidarisch. Das Resultat war: Sie wurden in die Rolle von Dissidenten gedrängt, obwohl ihre Absicht die offene Auseinandersetzung war.

Dann kam 1968 der Einmarsch in die ČSSR. Für ihn und seine Brüder war das ein Schock. Mehrmals waren sie in Prag gewesen, ihre Hoffnungen und Perspektiven basierten auf der Sogwirkung des „Prager Frühlings“.

Bernd E. tippte ein Flugblatt mit einem Lenin-Zitat, betreffend die Souveränität der Völker. Davon vervielfältigte er 150 Exemplare und verteilte sie an zwei Abenden in der Innenstadt von Halle.

Am zweiten Abend wurde er von Zivilfahndern überwältigt und geknebelt abgeführt. Womit er trotz des einkalkulierten Risikos niemals gerechnet hatte: Man verurteilte ihn zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus, Bautzen.

Seine Lebensgefährtin war schwanger, er wußte nicht, was aus der Freundin wird, wie die Geschwister sich verhalten. Aber die Familie hielt zusammen, niemand ließ sich einschüchtern. Und die Familie wurde nun zur einzigen Perspektive, die DDR und ein liberaler Sozialismus waren es nicht mehr. Bernd E. stellte nach seiner Freilassung den Ausreiseantrag und verließ 1975 die DDR.

Der Geologe

Peter Eisenfeld war wie sein Bruder auf der Arbeiter-und-Bauern- Akademie in Freiberg. 1961, im Jahr des Mauerbaus, erhielt er ein Stipendium zum weiteren Studium in Leningrad. Es war die „Tauwetterperiode“ in der UdSSR, alles war freier, großzügiger, städtischer, modischer.

Er heiratete eine Russin, bereiste das Land, wurde Geologe aus Leidenschaft. Als sie 1967 nach Dresden zurückkehrten, ging er als Erkundungsgeologe zur Wismut. Die Wismut ist eine Legende. Als Staat im Staate unterlag der Uranbergbau in der DDR der höchsten Geheimhaltung und Überwachung. Peter Eisenfeld konnte sich nicht mehr richtig einrichten, er geriet mit den Parteibürokraten aneinander, er war das freiere Sprechen unter Russen gewöhnt. 1972 verließ er die Wismut und arbeitete zusammen mit seiner Frau als Dolmetscher und Übersetzer für die staatliche Agentur „Intertext“. Während all der folgenden Jahre wurde Peter Eisenfeld zu einem „Eingaben-König“ der DDR; was seine Arbeitsmöglichkeiten entscheidend einschränkte.

Dazu muß man wissen, daß die Eingaben als basisdemokratisches Mittel in der Verfassung verankert waren: Die Bürger sollten zu allen Fragen des Lebens praktisch und direkt Stellung nehmen können. Wohl kaum jemand hat das so extensiv betrieben wie Peter Eisenfeld.

Er wollte seine Bürgerrechte geltend machen und den Staat (oder die Personen, die ihn repräsentierten) in eine konkrete Auseinandersetzung zwingen. Von heute aus betrachtet klingt das fast irreal, dabei war Peter E. niemals Pessimist, er folgte nur einer Konsequenz.

Er war fest verwurzelt in der DDR, er gehörte zu einem ökumenischen Friedenskreis, er bestand auf dem Dialog zwischen Bürger und Staat.

Als dieser ihn 1987 mit einer 24-Stunden-Frist aus dem Land warf und in den Zug gen Westen zwang, war das wie ein Sturz ohne Absicherung. Der Verlust aller Bindungen traf ihn schwer; so bedeutete der Westen zunächst Arbeitslosigkeit und Krankheit. Erst allmählich faßte er hier wieder Fuß.

Epilog

Der Siethener See hat die DDR überdauert und auch die Familie der Eisenfelds hielt ihr stand. Brigitte Eisenfeld setzte nach der Wende eine bedeutende Rolle durch, die „Violetta“ in Verdis „La Traviata“. Sie und der Regisseur glaubten an den Erfolg; es wurde ein Triumph mit stehenden Ovationen in der Staatsoper Unter den Linden.

Ulrich, der Maler, hat eine Reihe von Ausstellungen gehabt und Hans, der Rundfunksprecher, zeitweilig wieder ein Musikprogramm geleitet. Die Brüder Bernd und Peter haben im Westen schwer kämpfen müssen. Heute sind sie beim Bundes- oder Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen beschäftigt und erforschen eine Vergangenheit, die auch die ihre ist.

Sie alle, die ihr Leben jeweils selbst gelebt haben, sind ohne Ressentiments, ohne Rachsucht; allerdings auch jenseits jeder Nostalgie über das Land, in dem sie groß wurden.

Der Dokumentarfilm „Die Eisenfelds. Eine Familiengeschichte“ läuft am 28. 7. um 22.05 Uhr auf West3/WDR; um 23 Uhr auf B1, am 18. 9. um 23.30 Uhr auf MDR und am 9. 12. um 22.30 auf ORB