: Zur Mythologie des DEFA-Films
■ Im Rahmen des 6. DDR-Spielfilmfestivals sind in Berlin noch einmal die DEFA-Regalfilme der sechziger Jahre zu sehen
Die sozialistische Kunst schuf sich einen Kunstkanon, der nicht weniger streng war als die christliche Ikonographie. Natürlich wurde gegen diesen Kanon stets angekämpft, und man paßte sich ihm an. Die Spuren von Kampf und Anpassung sind auf der Leinwand zu sehen. Und es errät sich der Kanon - als Schatten dahinter.
Die Verklärung der Regalfilme läuft seitens der Betroffenen und der euphorisierten Kritik (Tränen der Rührung lassen wohl die Leinwand in Unschärfe erscheinen) auf Hochtouren. Die sechziger Jahre werden als eine mutige 'nouvelle vague‘ im DDR-Kino gefeiert. Man streitet nicht über Ästhetik, wenn es um die Politik geht. Und in den Filmen geht es um das Produktions-, Rechts- und Bildungssystem. Gab es da wirklich einen gefährlichen Ansatz, der die alten Denkmuster hätte kippen können? Leider nicht. In allen Filmen zweifelt kein Mensch - weder vor noch hinter der Kamera - an den Grundsätzen. Es gab nur eine Alternative: Kapitalismus oder Sozialismus, der erste mit Nationalsozialismus gekoppelt (neu und alt, aber die DDR-Bürger haben ja an der Seite der Roten Armee ihr Land befreit), der zweite mit Dogmatikern Stalinisten - bestückt.
Die Wahl wurde bereits vor langer Zeit, in den dreißiger Jahren, auf Weisung der Komintern getroffen, und 30 Jahre später - auch nach allen Enthüllungen des Stalinismus blieb unangezweifelt, daß es keine dritte Kraft gab und gibt und geben könne. Fehlschläge wurden auf den Einzelnen geschoben (unfähiger Direktor, karrieresüchtiger Richter, zickige Schulrätin). Der dogmatische Partei-Ober-Vater kommt in allen Filmen als deus ex machina einher, der letztlich die verrutschte, von rebellartigen Helden in Frage gestellte Gerechtigkeit der Ordnung wieder zurechtrückt, die allgemeine, höhere Wahrheit rettet: das System. Und noch einmal die allgemeine Mythologie sozialistischer Kunst beschwört.
Sie gerann zwischen den dreißiger und fünfziger Jahren zu starren Kunstmustern und war etwa so geprägt: Das goldene Zeitalter liegt vor, die Zeit der Barbarei (Unterdrückung oder Faschismus) hinter uns. Wegen des Allgemeinwohls in der Zukunft müsen heute individuelle Opfer erbracht werden, und so durchläuft der Held Bewährungsproben, die Initiation. Er kämpft mit den Feinden (Karrieristen, individuellen Verrätern an der Idee vom Allgemeinwohl) und gegen Naturgewalten: Erde (in Kolchosfilmen), Feuer (am Hochofen), Wasser (in Staudammfilmen).
In den sechziger Jahren erfolgte die Interritorisierung des Gegners: Der Held bezwingt nun die eigenen Zweifel, in sich, am Ende sich selbst. Geht es den Menschen im Sozialismus wirklich besser? Woher dann Engstirnigkeit und Engpässe? Warum ändern sich ständig Recht und Moral - in Abhängigkeit von tagespolitischen Erfordernissen? Brauchen wir wirklich soviel Lüge, um die Heiligtümer zu schonen, zu bewahren? Wenn der Leinwandheld diese Zweifel bekämpft, wirkt das als Initiation. Der Held muß die irrational behauptete Notwendigkeit einsehen, dabei hilft ihm der Parteisekretär, dem die nicht für alle einsehbare zweite Seite der Dialektik eröffnet ist.
Das bestehende Verbot (etwas zu ändern) und die ebenso bestehende Notwendigkeit (sich damit abzufinden, daß nichts zu ändern sei) werden mystifiziert - zu magischen Klauseln der sozialistischen Dramaturgie. Warum das Verbot (einer genialen Erfindung, individuellen Sicht, der Benennung offensichtlicher Tatsachen) besteht, woher es kommt, darüber spricht keiner: Es ist gesetzt wie ein Tabu, unaussprechbar, und auf diesem mystifizierten Ansatz gründet sich die mystifizierte Handlung als Spiel der Konventionen, dem sich alle beugen. Resigniert. In Spur der Steine darf man nicht den Plan ändern, in Denkt bloß nicht, ich heule darf man nicht denken, in Karla verstehen alle die Idiotie der Situation, doch geben ihr recht: der alte Kommunist, die junge Rebellin und ein resignierter Intellektueller, der nach kurzem Kampf als Journalist den intimen Genuß vorzog. Manfred Krug verwandelt sich in Spur der Steine aus einem Cowboy in schwarzem Zimmermannsanzug
-anarchistisch, spontan, frech - in den ordentlichen, die Notwendigkeit des absurden, öffentlichen Parteigerichts in Sachen Ehebruch einsehenden Arbeiter im weißen Dederonhemd. Seine Integrationsgeschichte, die Fabel der sozialistischen Dramaturgie, ist zu Ende. So wird die Frau zweimal verraten: vom schwachen Liebhaber, dem Parteisekretär, und vom umerzogenen Anarchisten. Sie reist ab.
Die Frau als eine „außerplanmäßige“ Lebensrettung für viele sozialistische Dramen. Männer mußten mehr Bewußtsein demonstrieren. Sie stellen keine Fragen. Fragen dürfen die Naiven stellen: Frauen oder Kinder. So wurden Filme im Schulmilieu oft zum Lehrmodell für Anfänge des Sozialismus. Wo das Mädchen fragte, warum eine Lehrerin entlassen wurde, wenn der Mann im Westen geblieben ist. So ist das, es hat mit Verantwortung zu tun, antwortet der gute Onkel 1. Kreissekretär. Die Macher milderten diese makabre Wahrheit, indem sie ein Palliativum aufbauten: Die Frau wurde zur Alkoholikerin gemacht. Und eine lallende Lehrerin kann man den Kindern nun wirklich nicht zumuten... So eröffnete der weise Chef dem Mädchen die berühmte Einsicht in die Notwendigkeit: „Erscheinen Pflicht.“ (Helmut Dziuba, 19 ) Doch daß die Frau vermutlich zu trinken anfing, als sie von ihrem Direktorenposten verjagt wurde, hat der Dialektiker unterschlagen.
Interessanterweise zweifelten die Filmemacher in den sechziger Jahren gleichsam nicht an der Richtigkeit der Verbotsbedingung und sahen genauso wie ihre Helden „die Notwendigkeit“ dieses Beschlusses ein - diese Filme bauten auf der Annahme der gebotenen richtigen Entscheidung von oben auf. Und sie wird nicht als Entmündigung empfunden: Die Leninsche Vorstellung von der Partei als einem exterritorisierten Bewußtsein der dumpfen Klasse - einer Masse ohne Bewußtsein - wurde in diesem Dramaturgiemuster materialisiert. Für sie wurde gedacht, was besser ist und was gesünder. Keine Sorge um Geld, Arbeit, Kindererziehung, Politik, Umwelt. Egal, was passiert - das höhere kollektive Wesen rettet dich und die Welt.
Diese Mythologie erlebte in den siebziger Jahren ein Fiasko, als Raketendichte und ökologische Katastrophen auch den Menschen im Sozialismus die Hoffnungen auf die lichte Zukunft raubten. Vor dem Ozonloch konnte die Partei die Menschheit nicht mehr retten. Die tiefe Krise des Konzepts von der goldenen Zukunft nahm die Bereitschaft zu Opfern. Die archaische Mythologie vom Erlöser geriet mit der tagtäglichen sozialen Erfahrung in Konflikt. Gorbatschows Perestroika kam in diesem Sinne längst nicht nur von oben: etwa als rein intellektuelle Bewegung. Sie nahm die Explosion von unten vorweg. Die Forderungen der Massen, die sich nicht mehr als Statisten einer Übergangsgesellschaft betrachten (lassen) wollten. Diese Stimmungen verdichtete Volker Braun in seinem gleichnamigen Stück, auf die Leinwand kamen sie in der DDR nicht. Dazu die neue jugendliche Kultur, die nicht auf das heldenhafte Tun, sondern auf den Kult des Nichtstuns zielte und nicht nur im Kapitalismus Wurzel schlug. Mit Endzeitstimmung und Ängsten.
Die Masse, die mit ihren Ansprüchen und Ängsten im Film ausgespart war, übte nun Rache. Die Rache der Realität an den Künstlern: Die Belegschaft der DEFA stoppte ein Filmprojekt. Über den Volksentscheid von 1946. Die vom Leben servierten Metaphern sind gar noch kitschiger als die der DEFA-Kunst.
Oksana Bulgakowa
Die verbotenen DEFA-Filme der sechziger Jahre sind in Berlin z.Z. im Rahmen des 6.DDR-Spielfilmfestivals zu sehen. Termine im Kino International (Ost-Berlin): bis Do täglich 13 Uhr, Di und Mi auch 16 Uhr - Termine im Kino Arsenal (West-Berlin): bis 4.6. jeden Abend 20 Uhr.
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