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Archiv-Artikel

Zur Belohnung in die Luxuszelle

Die JVA in Siegburg hatte schon vor dem Mord einen schlechten Ruf – dort läuft kein Kabel-TV

aus Heinsberg ANNIKA JOERES

Natürlich hat auch Patrick von dem Knastmord in Siegburg gehört. „Das ist schon krass“, sagt der 16-Jährige. Der kleine kurzhaarige Junge sitzt in seiner Einzelzelle. Mit seinen kindlichen Gesichtszügen und der glatten Haut sieht er noch jünger aus. Seine Zelle ist zehn Quadratmeter groß, inklusive Toilettenraum, wirkt aber noch enger: Patrick hat das vergitterte Fenster und die Wände mit schwarzen Tüchern abgehängt. Er mag das Tageslicht nicht. „Hier passiert kein Mord, glaube ich“, sagt er. Hier, das ist die Jugendvollzugsanstalt Heinsberg. „Wenn Streit ist, sind ja sofort Aufpasser da.“

Streit war es nicht, was die drei Häftlinge an jenem Samstag vor zwei Wochen dazu brachte, ihren Mithäftling zu foltern, zu erniedrigen, zu missbrauchen und dann zu erhängen. Es war Langeweile, sagten sie später aus. Die Langeweile ist das Schlimmste im Gefängnis, findet auch Patrick. Deswegen habe er es auch gut gefunden, am Anfang in einer Doppelzelle zu sitzen. Der Andere sei nett gewesen. Auf Patricks Regal stehen drei Dosen Cappuccino-Pulver, ein Bild seiner Familie und Krimibücher. „Nur zur Deko“ sagt er. Der zierliche Junge mit dem Käppi sitzt schon seit neun Monaten, für räuberische Erpressung, Diebstahl, Drogen, schwere Körperverletzung. Sieben Monate muss er noch bleiben. Am wichtigsten ist ihm der Fernseher, gerade läuft VIVA. Er ist sein Kontakt nach draußen, die Bilder gegen die Ödnis.

Von Siegburg haben viele der 300 Insassen schon einmal gehört, längst vor dem Mord. Einige wurden von dort nach Heinsberg verlegt. Die JVA Siegburg hat keinen guten Ruf: Dort läuft kein Kabelfernsehen, sagen sie. In Heinsberg kämpft der Gefangenenrat, eine Art Betriebsrat, für mehr Programme im TV. Durchgesetzt hat er schon dunkle Gardinen, damit der Bildschirm nicht von der Sonne den Kontrast verliert. Wer aber gewalttätig ist, wer schimpft und beleidigt, dem wird der Fernsehen entzogen, die schlimmste Strafe.

Auf dem Fernseh-Entzug basiert das System in Heinsberg, das so genannte „pädagogische Stufenkonzept“, das Anfang des Jahres eingeführt wurde. Jeder der 300 Insassen kann sein Leben im Gefängnis verbessern – oder verschlechtern. Wer verbale oder körperliche Gewalt ausübt, kommt in Zellen ohne Fernseher, muss Anstalts-Kleidung tragen, darf seine Sportart nicht wählen. Die Häftlinge nennen das die AOK-Klasse: Alles ohne Komfort. Wer hingegen pünktlich zum Frühstück geht, nicht pöbelt, gut in der Werkstatt mitarbeitet, der kann seine eigenen Klamotten tragen, CDs hören, unbegrenzt Fernsehen gucken und den Fitnessraum nutzen. Die ganz Vorbildlichen dürfen weitere Sportarten wählen, haben länger Ausgang, auch Urlaubstage. Das Stufen-Modell ist für alle verständlich nach Farbpunkten sortiert.

„Das System ist sehr aufwändig, aber es funktioniert“, sagt der stellvertretende Anstaltsleiter Willi Kroh in seinem Büro. Seit 1979 ist der Sozialpädagoge, drahtig und mit einer Jeansjacke bekleidet, in der JVA beschäftigt. Er sagt, seine Häftlinge seien unter Kontrolle. Und Siegburg? „Ausschließen kann man nichts“, sagt er im rheinischen Dialekt. Aber er könne es sich einfach nicht vorstellen, dass diese Rohheit, diese unglaubliche Gewalt, in seiner Anstalt passieren kann. Sicher ist er sich aber nicht: „Die Jugendlichen sind impulsiv, da reicht oft ein Wort und der Streit geht los.“ Unberechenbar, launisch seien sie. Trotzdem könnten sie nicht rund um die Uhr überwacht werden: Wenn die Beamten alle drei Stunden in der Nacht ins Zimmer gucken sollen, wie von Politikern nach dem Mord gefordert, würden die Häftlinge um ihren Schlaf gebracht. Die Türschlösser sind nur geräuschvoll zu öffnen – erst muss der große Riegel entfernt die Sicherheitskette eingerastet werden. „Selbst im Gefängnis gibt es keine absolute Kontrolle, und das ist auch gut so“, sagt Kroh. Obwohl die Gefangenen immer härtere Fälle seien. „Unsere Insassen werden immer jünger.“ Früher, erzählt der 58-Jährige, hätten sie mit 14 Drogen genommen. Dann hätten man gesagt, Donnerwetter, schon mit 12, und jetzt, meine Güte, mit acht Jahren.

Mehr als die Hälfte der Jugendlichen wird mittlerweile wegen Gewaltdelikten verurteilt. „Das ist drastisch“, sagt Kroh. Die Zellen in Heinsberg sind immer komplett belegt, selbst zur Weihnachtszeit, wenn besonders viele vorzeitig entlassen werden. „Wir haben immer Hochkonjunktur.“ In einigen Jahren sollen auch noch die Untersuchungshäftlinge von Düsseldorf nach Heinsberg verlegt werden, die JVA ist dann die größte Anstalt für Jugendliche in Deutschland.

Auch hier gibt es in den Zellen einen kleinen schwarzen Notknopf an der Wand, wie in Siegburg. Der Ermordete hatte ihn auch drücken können, die Beamten ließen sich aber durch die Gegensprechanlage von den Tätern überzeugen, dass alles in Ordnung sei. In Heinsberg wäre das nicht möglich – es gibt keine Gegensprechanlage. „Der Knopf wird sowieso nur zwei Mal im Jahr gedrückt“, sagt Helmut Hotopp, Justizvollzugsbeamter der „AOK-Klasse“. Jetzt steht er in den großzügigen Werkzeughallen. Vor seiner Karriere im Knast war er selbst Betriebsschlosser. Der schnauzbärtige, rundliche Mann sagt: „Wenn einer klingelt, rennen alle Beamten sofort zur Zelle.“ Dass die Siegburger Kollegen nicht gerannt sind, will er nicht kommentieren. An einem Wochenende sei es aber sehr eng mit den Kollegen, das Personal knapp. „Wir würden die Jugendlichen gerne mehr betreuen“, sagt er. Hotopp musste im Laufe seiner 27-jährigen JVA-Karriere ein paar Ideale aufgeben. Am Anfang habe er daran geglaubt, die Jugendlichen da raus holen zu können, sie zu „resozialisieren, wie es so schön heißt“, sagt er leise. „Jetzt bin ich froh, wenn wir einen durchkriegen.“ Letztendlich seien die Jugendlichen eben, sagt auch er, „unberechenbar“. Schwierig wird die Stimmung abends oder am Wochenende, wenn es für die Gefangenen nichts zu tun gibt. Hotopp achtet auf die Geräusche. „Wenn es leise wird, dann geh ich gucken.“ Oder wenn plötzlich alle gleichzeitig zum Arzt wollen: Dann droht im Warteraum eine Schlägerei oder ein Drogen-Deal an. Innerhalb der Gefangenen gibt es klare Hierarchien, jeder Neue wird gemustert. Hotopp hat schon oft gehört, wie sie ihre Taten aufgebauscht haben. Aus der Oma, die sie ausgeraubt haben, wird dann schon einmal ein zwei Meter großer Bodybuilder. Sexualtäter verschweigen ihr Vergehen – sie würden drangsaliert.

Oft sehen die Beamten erst zu spät, wer unter der Hackordnung der Häftlinge leidet. Wenn beim Duschen die versteckten blauen Flecken zum Vorschein kommen oder jemand die Marken-Hose seines Nachbarn trägt. „Dann ist in der Gruppe ein Verlierer und muss da raus geholt werden“, sagt Hotopp. Niemals aber würden sie selbst zu ihm kommen oder wegen eines blauen Auges den Notknopf drücken. „Wer petzt, hat total verloren“, sagt Hotopp. Für ihn ist es wichtig, immer dieselbe Gruppe zu betreuen. „Ich muss alle kennen, sonst bemerke ich die Stimmung doch gar nicht.“

Die Hälfte der Jugendlichen wird die JVA auch ein zweites Mal betreten, später dann die Erwachsenenanstalten. Dabei kriegen hier auch diejenigen einen Ausbildungsplatz oder Schulabschluss, die draußen keine Chance gehabt hätten: Fast alle kommen von der Sonderschule oder der Schule für schwer Erziehbare, einige von der Hauptschule. Einen Abschluss hat kaum jemand. Die Teenager werden in den hauseigenen Werkstätten zu Elektro- und Feinmechanikern, zu CNC-Technikern und Werkzeugmechanikern ausgebildet. Die schwächeren Schüler lernen Zuarbeiten: Böden pflastern, Bäume ausgraben, Gärten pflegen. Eine Stunde am Tag, im Sommer auch länger, können sie auf den Hof. Angelegte Wege führen durch Rasenstücke, im Sommer wird hier gegrillt, die Schulwände sind bunt bemalt. Unter den Zellenfenstern liegen Berge von Abfällen, jeden Morgen neu. Milchtüten und Snickers-Papier, aber auch Zigaretten. Oder auch Schuhe an einer abgerissenen Schnur: Sie binden ihre Sneakers an einen Faden und transportieren Feuerzeuge oder Drogen in die Nachbarzelle. Das verschlingt schon mal ein paar Minuten der Langeweile.

Denis ist ein Exot in seiner Abteilung, der „Luxusklasse“ mit Fernseher und freier Sportwahl. Er hat einen wachen, klaren Blick und war als einziger auf der Hauptschule. Dort möchte er auch seinen Abschluss machen, wenn er im Januar vorzeitig wegen guter Führung entlassen wird. Von dem Siegburger Vorfall hat der 18-Jährige von seiner Oma am Telefon erfahren, sie hat sich große Sorgen gemacht. Der schlaksige Volljährige sieht das gelassen. „Mir passiert hier nichts“, sagt er, „ist fast wie in der Jugendherberge.“ Bis auf die Gitter vor dem Fenster. Wie Patrick hat er seine kleine Luke mit einem Tuch verdunkelt, trägt Pulli und Hose von Puma. Am Anfang saß auch er in einer Doppelzelle, das hat ihm nicht gefallen, auch wenn der Andere ganz sympathisch gewesen sei. „Ich will nur meine Ruhe.“ Gewalt zwischen den Jugendlichen will er nicht beobachtet haben. „Das ist alles überbewertet“, sagt er und überlegt kurz. „Man muss aber nur ein paar Verrückte in eine Zelle stecken, dann geht es los“, sagt er dann. Auch er möchte einen Fall wie Siegburg nicht ausschließen.