■ Zur Anti-Sozialstaats-Offensive der Arbeitgeber: Auftritt der Einpeitscher
Die Soziallast wird uns erdrücken, wenn wir untätig bleiben.“ Mit solch drastischen Worten hat Klaus Murmann, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber (BDA), zwei Tage nach der Bundestagswahl den „Umbau des Sozialstaats“ eingefordert. Seine von ihm so präsentierte „Denkschrift“ hat es in sich: Das Rentenniveau soll gesenkt, die Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall sollen reduziert, die Bürger stärker an den Arztkosten beteiligt und arbeitsmarktpolitische Leistungen künftig aus Steuermitteln finanziert werden.
Sekundiert wird Murmanns Verlangen nach einer deutlichen Reduzierung der Lohnnebenkosten von Industriepräsident Tyll Necker, der einen „Umdenkungsprozeß bei den Gwerkschaften“ einklagt. Und DIHT-Präsident Hans Peter Stihl klagt gleich die Wahlkampfversprechen der Union mit ein: Unternehmenssteuerreform, Privatisierung und Deregulierung.
Den Zeitpunkt für ihre Demontage-Offensive haben die Cheflobbyisten von Wirtschaft und Industrie geschickt gewählt. Die Wahl ist gelaufen, „Wunschkandidat“ Kohl am Ruder geblieben. Warum also sollen nicht jene strategischen Positionen wieder mit Verve besetzt werden, mit denen die Koalitionsparteien schon im Endspurt zur Wahl eine alte Diskussion neu aufgelegt haben: die um die „Drückeberger“ in der „sozialen Hängematte“. Das Aufschwunggerede, das den Kanzler zum Sieg getragen hat, ist verstummt, jetzt steht wieder die „ordnungs- und wachstumspolitische Neujustierung“ (BDI) auf dem Programm.
Die Arbeitgeber scheinen mit ihrer Offensive drei Dinge im Sinn zu haben: Zum einen sollen die hohen Lohnnebenkosten gesenkt werden. Dafür gibt es gute Gründe, denn sie machen einen Großteil der Abgabenbelastung der Wirtschaft aus und verteuern zudem die Arbeitskraft erheblich. Nicht zuletzt plädieren auch die Befürworter einer ökologischen Steuerreform dafür, die Lohnnebenkosten im Gegenzug drastisch zu reduzieren. Zum zweiten will die Wirtschaftslobby eine Bresche für einen Billiglohnsektor schlagen. Dazu muß aber, das ist auch ihnen klar, erst das Niveau der staatlich garantierten Ersatzleistungen (Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe) nach unten gedrückt werden, um derartige „Mac Jobs“ für die Empfänger überhaupt „attraktiv“ zu machen. Und schließlich steht die kommende Tarifrunde an, bei der man neuen Begehrlichkeiten der Gewerkschaften und ihrer Klientel gerne einen weiteren Riegel vorschieben möchte.
Freilich zweifelt niemand an der Notwendigkeit einer weltmarktgängigen Modernisierung, wenn man mit Hilfe des Marktes die Entwicklung forcieren will. Doch ob dabei die hohen Lohn(neben)kosten das Kardinalproblem sind oder nicht vielmehr die Innovationsschwäche, wie Gewerkschaften und Sozialdemokraten behaupten, steht auf einem ganz anderem Blatt.
Eines jedoch ist klar: Über kurz oder lang muß es zu einem Zielkonflikt kommen. Denn es ist nicht auszuschließen, daß alle alten Industrieländer über Jahre hinweg die steigende Produktivität in tieferen Preisen weitergeben müssen, um den Standort gegenüber den neuen Industriestaaten Asiens zu halten. Für bessere Löhne bliebe da nichts übrig. Das geschah schon vor 100 Jahren in England, als die USA, Japan und Deutschland Preise und Löhne drückten. Und letztlich schließen sinkende Löhne noch lange kein weiteres Ansteigen der Arbeitslosigkeit aus. Das macht, will man den sozialen Frieden nicht aufs Spiel setzten, Kompensationen notwenig: soziale Ausgleichszahlungen, Einkommenstransfers oder Notbeschäftigungsprogramme.
Um so irritierender ist es, mit welcher Selbstverständlichkeit die Wirtschaftsvertreter den Schlüsselbegriff „Standort Deutschland“ neu aufgelegen. So entscheidend der Gesichtspunkt der internationalen Konkurrenzfähigkeit auch sein mag, er bleibt in seiner ethischen wie intellektuellen Schlichtheit ein überaus problematischer Maßstab. Wie es an diesem oder jenem Standort aussieht, kann niemandem gleichgültig sein.
Bei der Debatte um den Sozialstaat geht es um sehr viel. Es ist nicht der leider von leidenschaftlichen Wohlfahrtsstaatsverteidigern oft tabuisierte Mißbrauch von Leistungen, der die Krise des Sozialstaats ausgelöst hat. Auch die exorbitant gestiegenen Kosten (inzwischen eine Billion D-Mark im Jahr, was einem Drittel der volkswirtschaftlichen Gesamtleistung entspricht), die nicht nur soziale Leistungen, sondern auch die Handlungsfähigkeit des Staates bedrohen, sind nicht das Hauptproblem. Die Ursache liegt woanders. Der Sozialstaat erreicht offensichtlich seine Ziele nicht mehr und verliert daher zunehmend an Vertrauen und Akzeptanz. „Der Sozialstaat ist dabei“, hat der Soziologe Bernd Guggenberger treffen analysiert, „das Soziale zu enteignen.“
Wer will denn ernsthaft bestreiten, daß das Sozialstaatsprinzip von der Umverteilung zugunsten Armer und Bedürftiger längst zur Transfereinrichtung für alle möglichen Finanzierungsprobleme geworden ist – von der dauerhaften Bewältigung der Massenarbeitslosigkeit bis hin zu den rapide gestiegenen Arzneimittelkosten?
Weil aber gerade das Prinzip immer mehr an Überzeugungskraft verliert, droht nun nicht nur die Solidarität zwischen Reichen und Armen, sondern auch unter den Bedürftigen zu zerbrechen. Wo gesellschaftliche Werte einem grundlegenden Wandel unterliegen und sich mit den durch ein ausdifferenziertes Wirtschafts-, Arbeits- und Berufssystem bedingten Individualisierungsschüben immer mehr „Normenpluralität“ herausbildet, wird das Kollektivbewußtsein ohnehin merklich geschwächt. Und die Fundamente des klassischen Sozialstaats, Arbeit und Familie, tragen immer weniger. Was den Sozialstaat aber vollends in den Ruin treibt, ist die Phantasielosigkeit der Politik. Werden immer mehr Menschen in die wirtschaftliche Passivität gedrängt, müssen die Aktiven immer mehr Beiträge entrichten. Um nur ein Beispiel zu nennen: Nach der Jahrtausendwende, prophezeien Ökonomen wie Meinhard Miegel, werden allein die Rentenversicherungsbeiträge auf 40 Prozent der Bruttolöhne ansteigen.
Da eine weitere Etatisierung der sozialen Probleme unmöglich erscheint, drängt es Kritiker wie Anhänger des Sozialstaats zur Umorientierung. Grundsätzlich neue Wege in Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik einzuschlagen fällt jedoch immer noch der SPD wie der Union schwer. Das radikale und zukunftsträchtigste Konzept, ein vom Staat garantiertes Mindesteinkommen, findet in den großen Volksparteien noch immer keine Gnade. Der Union ist es zu teuer und zuviel „Hängematte“; die SPD fürchtet nicht zu Unrecht Tariflohnsenkungen auf breiter Front.
Die Aufgabe der Reformkräfte wird es daher sein, ihre Ideen vom Umbau des Sozialstaats in realisierbare Konzepte umzusetzen. Sonst dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die Konzertgemeinde vom Geschrei übertönt werden wird. Erwin Single
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