piwik no script img

■ Zum vorösterlichen Helmut-Schmidt-RevivalAlles Pfeifendeckel

Man hätte es ahnen können, denn die Ruhe währte verdächtig lange. Hier ein patriotischer Zeitungsartikel, dort ein Vortrag zur Lage der Weltwirtschaft – im übrigen die jungen Leute der Zeit-Redaktion Sekundärtugenden lehren –, das konnte den pensionierten Staatslenker Helmut Schmidt nicht ausfüllen. Der Mann, dessen historische Bemerkungen über die abgründige Unverständlichkeit der Strom- und Wasserrechnungen ebenso unvergessen sind wie sein Augenzeugenbericht über Breschnews Kammerdiener Aljoscha, der dem Sowjetführer stets Wodka aus dem Flachmann nachgoß („Menschen und Mächte“, 1987), hat seine publizistische Osteroffensive strategisch vorbereitet und exakt getimt.

Die Chaotenregierung des verachteten Helmut Kohl bangt Montag für Montag dem neuesten Abenteuer der Familie Krause entgegen, während die sozialdemokratische Enkelgeneration schneller altert, als die Programmkommission 2000 vorgesehen hat. Bevor die Zukunft richtig anbrechen kann, ist die Gegenwart schon in der Pfeife verraucht und sind die Enkel in Frührente. Engholm, Lafontaine, Scharping, Schröder, Eichel, Hauff, Däubler-Gmelin, da fällt Helmut Schmidt nichts mehr ein – außer Helmut Schmidt. Und so zieht er in Bild, Wort und Schrift („Handeln für Deutschland“, 1993), in Funk und Fernsehen über die Unfähigkeit der politischen Klasse her, der es vor allem an „ökonomischer Klarsicht“ fehle.

Doch der Alt-Bundeskanzler, der sein Amt 1982 inmitten einer Wirtschaftskrise verlor, kann die informierte Öffentlichkeit nicht täuschen: In Wirklichkeit geht es dem Siebzigjährigen aus der Flakhelfer-Generation um die Rache an 1968. Pünktlich zum 25jährigen Jubiläum der verhaßten Revolte inszeniert er die Rückkehr der Verdrängten, bevor Joschka Fischer Bundeskanzler werden kann. Sein Vorschlag im Spiegel-Gespräch, Hans Matthöfer, 67, als neuen SPD-Finanzexperten aus der Versenkung zu holen, korrespondiert auf atemberaubende Weise mit dem Gruftie-Trend, der in derselben Spiegel-Ausgabe dingfest gemacht wird: Das Revival der Siebziger scheint unaufhaltsam. Die RAF bombt wieder, was der Sprengstoff hergibt, Heinz Schenk kehrt auf den Bildschirm zurück wie Herbert Wehner auf die Titelseiten, Wohngemeinschaften werden wieder so beliebt wie alte Abba-Hits, und im Fernsehen wird „Wünsch Dir was“ wiederholt – mit Dietmar Schönherr und Vivi Bach.

Der schreckliche Bann der Vergangenheit liegt über dem Land und keiner tut etwas dagegen. Dabei haben wir die Zukunft doch nur von unseren Kindern geliehen. Reinhard Mohr

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen