Zum Tode von Félix Guattari

■ Wir übernehmen einen Nachruf von Paul Virilio aus „Libération“

Bis in die letzten Tage damit beschäftigt, den langen Dialog zu überarbeiten, den wir beide über den Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien geführt haben, trifft mich die Nachricht vom Tode Guattaris... Chaos der Gefühle, Chaos jener Subjektivität, über die Félix einmal gesagt hat, daß sie „ebensowenig wie Luft und Wasser eine Selbstverständlichkeit ist“. Meine Reaktion auf das plötzliche Verschwinden meines Freundes wird also nichts Offensichtliches oder Natürliches haben, sie wird konstruiert, imaginiert sein. Seit einiger Zeit schon lese ich wieder Kafka, der wie niemand sonst das europäische Desaster vorwegnahm, und ich sehe noch vor mir — es war am 4.August —, wie Félix Guattari mir mit ernstem Gesicht die große Bedeutung bestätigte, die er und Gilles Deleuze dem Autor der „Verwandlung“ beimaßen. Nicht nur dem Poeten, dem eigenbrötlerischen Schriftsteller, sondern der Kassandra der Chaosmose jener dreißiger Jahre, die schon einmal zum Krieg in Europa führte, zum Völkermord in den Vernichtungslagern der Nazis. Überzeugt vom Widerhall jener fernen und finsteren Periode in unserer heutigen, erklärte mir Guattari: „In der heutigen Chaosmose zeichnen sich Verzweigungen von Möglichkeiten ab, zu denen auch die schlimmste gehört — so schlimm, daß es alle unsere heutigen Vorstellungen übersteigt. Hier ist es vielleicht alles entscheidend, Resonanzräume zu finden, Aussage- und Aufzeichnungsmöglichkeiten in einem Moment, wo die traditionellen Sprecher verstummt sind.“

Kurz nach dieser Ohnmachtserklärung sind wir in der Rue du Dragon mit Sacha Goldmann und einer geflüchteten Serbin essen gegangen, die mit all ihrem Charme und ihrer ganzen Verve versuchte, sich für ihre Nationalität zu entschuldigen. Den ganzen Abend, bis spät in die Nacht versuchte Félix, ihren Skrupeln zuvorzukommen, ihr zu helfen, wie er es schon immer und bei vielen Leuten getan hat. Zum Abschluß der Diskussion über die militärische Anarchie im Balkan hat Guattari seine Gedanken noch einmal zusammengefaßt: „Heute kann man nicht mehr sagen, daß es einen Krieg der Ideen gibt wie im Zweiten Weltkrieg, die Ideen erscheinen wie Geiseln angesichts der neuen — und faszinierenden — subjektiven Reterritorialisierung. Daher die Sackgasse, in der sich nicht nur die UNO und die an den Friedensgesprächen beteiligten Regierungen befinden. Wir selbst stecken darin, die europäische Subjektivität, die einerseits in einen kläglichen ethnischen Faschismus abgetaucht ist und andererseits in eine tiefe Sehnsucht nach einer Veränderung der Mentalitäten.“ Eine Veränderung, in der die Ökologie eine immer bedeutsamere Rolle spielen würde, denn seit der Konferenz von Rio legte Guattari einen noch größeren Wert auf die Verbindung der politischen und geopolitischen Fragen mit der Ökologie.

Ende Juni, nach einer scharfen Debatte über den Einfluß der Technologie, hatte Guattari mir anvertraut: „Die Dritte Welt und alle anderen Randfiguren befinden sich in einem Ordnungssystem, das ganz den traditionellen Dispositiven entspricht — sie befinden sich außerhalb der technologischen Moderne. Bei den Debatten über Ökologie und Entwicklung in Rio war die Versuchung groß, den Ländern der Dritten Welt den Zugang zu den industriellen Technologien zu versperren, damit sie die Umwelt nicht noch mehr verschmutzen. Wir haben also nicht mehr nur mit einer dualen Gesellschaft, sondern einem dualen Planeten zu tun.“ Der Ost- West-Gegensatz ist verschwunden, dafür tun sich andere Konfrontationen auf, für die es minimale — weniger als minimale — Interpretationsansätze gibt. Leute wie Félix Guattari haben sich der Aufgabe gestellt, weniger um der Verzweiflung zu entkommen, als sich um der sterilen Wiederholung linker oder rechter Denkmuster zu erwehren. Und das in einem Moment, wo die Folterknechte wieder aufstehen. Spezialist — zusammen mit Deleuze — in der Analyse der Kriegs- und auch der metaphorischen Maschinen wird uns Freund Félix künftig durch seine Schriften, seine Thesen zur Ordnung des Chaos helfen, die Frontlinie richtig einzuschätzen — nicht die zwischen den Erbfeinden, sondern die, welche die Unterscheidung zwischen faschistischer oder fremdenfeindlicher Intoleranz analytisch ermöglicht. „Eines der wirksamsten Verführungsmittel des Bösen ist die Aufforderung zum Kampf“, schrieb Kafka in seinem siebten Aphorismus.

Es kann nicht mehr darum gehen, ideologische Kämpfe auszufechten, die letztlich in Massakern an Unschuldigen enden, sondern es geht darum, die Verzweiflung der Armen, der Ausgeschlossenen und derer die keine Chance haben, ihr Lager zu wählen, zu lindern.

Copyright: „Libération“, 31.August 1992