Zum Tiefseetauchen ins Atomkraftwerk

■ Strahlende Aussichten für den Acht-Milliarden-Mark-Flop „schneller Brüter“ in Kalkar: Ein Niederländer macht aus dem Atomreaktor einen Freizeitpark. Kühlturm als Kletterwand

Kalkar (taz) – Henny van der Most gilt in Kalkar als ehrbarer Mann. Für die Leute in der niederrheinischen Kleinstadt zählt vor allem eine Begabung: „Der ist Niederländer“, erklärt Grünen-Stadtrat Willibald Kunisch, „und die machen irgendwie aus allem Geld.“ Als wolle er dem Klischee gerecht werden, hat sich der ehemalige Schrotthändler und Multimillionär an ein einzigartiges Recycling-Vorhaben gewagt: Seit zwei Jahren baut der 48jährige den schnellen Brüter, Deutschlands teuerste Bauruine, in einen Freizeitpark um. Das ausgemusterte AKW wird zum „Kern-Wasser- Wunderland“.

Die Geschichte begann 1995. Ganz banal mit einer Zeitungsannonce bot eine Tochterfirma der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke den Reaktor vom Typ SNR300 zum Verkauf an. Das Schnäppchen der Superlative hatte bis dahin acht Milliarden Mark gekostet, ohne ein einziges Watt Strom erzeugt zu haben. Für angeblich drei Millionen Mark wurde Henny van der Most Eigentümer eines Atomkraftwerks.

Pläne für einen Pferdehof, eine Fachhochschule oder eine Champignonzucht fielen bei Kalkars Bürgermeister Karl-Ludwig van Dornick (CDU) durch. Van der Most habe das beste Konzept präsentiert. 70 Millionen Mark will der neue Hausherr nach eigenen Worten in das 80 Fußballfelder große Areal stecken. In drei Jahren will er erste Gewinne einstreichen. Im Norden Hollands hat van der Most das Unglaubliche vorgemacht: Ein marodes Krankenhaus eröffnete er als Schwimmbad wieder. Aus einer Kartoffelmehlfabrik machte er den größten überdachten Kinderspielplatz der Niederlande. Mit seinen Freizeitparks machte er stets gute Geschäfte.

„Umbauen ist mein Hobby“, freut sich van der Most. Der Mann stellt den schnellen Brüter auf den Kopf. Er begann 1996 bescheiden mit einem 46-Betten-Hotel im Verwaltungstrakt des Kraftwerks. Bis zum Jahr 2004 sind 1.200 Betten in separaten Unterkünften für Senioren, Sportler und Familien geplant. Ein Tagungshotel steht schon: Wo einst die Werksfeuerwehr möglicher Katastrophen harrte, finden demnächst Jahrestagungen statt.

Im Windschatten des Betonklotzes schneller Brüter ducken sich seit kurzem sechs Tennisplätze, ein Fußball-, Boccia- und ein Beach-Volleyball-Feld, außerdem Cart- und Crossbahnen. Auch nachts strahlt das ehemalige Atomkraftwerk keine Langeweile aus. Im Keller des Reaktors erwartet eine Westernbar mit „Gefängnisbereich“, Schießbahnen für Laserkanonen und Vorrichtungen für Hufeisenwerfen bis zu 500 Gäste.

Und dann gibt es noch den weltweit einmaligen Wanderpfad: Über endlose Treppen, durch enge Gänge, schummrige Flure, Schleusen und bedrohlich blinkende Schaltzentralen können Besucher auf eigene Faust durch das fast noch intakte AKW bummeln. „Fast wäre ich nicht mehr herausgekommen“, beschwert sich ein älterer Herr an der Rezeption. Andere Besucher nutzen solche Situationen, um Grabräuber zu spielen: Schaltknöpfe und strahlensichere Telefone wurden schon gemopst.

Höhepunkt des gruseligen Techniklehrpfades ist der Blick in den Reaktortank. „Wir haben für sie ein Brennelement eingebaut“, informiert ein Schild, das netterweise auch mitteilt, der Behälter sei „nicht nuklear beladen“. Zukünftig, erklärt Henny van der Most vergnügt, wird der 35 Meter tiefe Reaktortank mit Wasser, Fischen und Pflanzen gefüllt. Ein Riesenaquarium zum „Tiefseetauchen“ für Gäste. Damit nicht genug. Im AKW-Kontrollraum werden Billardkugeln rollen. Im Bunker für die Dieselmotoren entsteht eine Disko mit der wohl sichersten Tanzfläche der Welt: Bomben, abstürzende Flieger oder Erdbeben kommen gegen die zwei Meter dicke Betonhülle um sie herum nicht an. An einem Durchbruch bohrte ein Arbeiter zwei Wochen. Und der 45 Meter hohe Kühlturm des Reaktors, zunächst als Wasserorgel vorgesehen, soll Europas größter Kletterturm werden.

„Die Leute möchten heutzutage in weniger Zeit mehr erleben“, weiß Melanie Ostermann. „Alles inklusive“ lautet also die Geschäftsdevise: Die Gäste essen, trinken und treiben, was und wieviel sie vom Angebot wollen. Abgerechnet wird nach Zeit – zu Dumpingpreisen. Voriges Jahr kamen 100.000 Besucher, ein Drittel davon Holländer. „Die Neugier gepackt“ hat auch Annemarie Böttcher (66). Die Rentnerin aus dem Nachbarort Goch macht mit Mann und Enkelin einen Ausflug zu Kaffee und Kuchen in die Betonlandschaft. „Jetzt wollen wir den Reaktor auch mal von innen sehen, nachdem wir den ganzen Rummel mitgemacht haben.“ Damit meint sie die Proteste der 70er Jahre: Auf der Wiese vor dem Brüter, wo heute Tausende Parkplätze liegen, lieferten sich damals Zehntausende AKW-Gegner Schlachten mit der Polizei. Kalkar wurde zum Negativsymbol. Örtliche Lebensmittelfabriken gaben damals Kalkar als Firmensitz auf.

Der Ort beobachtet den Reaktorumbau mit Wohlwollen. Nur der Grüne Willibald Kunisch hält nicht viel vom heraufziehenden „Disneyland für Arme“. Lieber hätte er ein anderes Gewerbe angesiedelt – „für mehr qualifizierte Arbeitsplätze“. Doch auch der grüne Stadtrat wird sich mit dem Freizeitpark abfinden. Alles andere würde van der Most auch nicht verstehen: „Daß ich den Reaktor überhaupt kaufen konnte, habe ich doch den Grünen zu verdanken.“ Stefan Schirmer