: Zum Kricketspielen verdonnert
■ Suche nach Identität: Shyam Selvadurais Roman über eine Kindheit in England
Romane, die davon handeln, wie jemand anders Kind war und dann erwachsen wird oder auch nicht, werden vermutlich noch gelesen werden, wenn die meisten anderen Genres längst ausgestorben sind. Das Terrain der Kindheit-und-Jugend-Erinnerungsliteratur ist riesig, bietet viel Platz für Sentimentalitäten und für jedeN irgendwo eine passende Projektionsfläche. Doch ist eine gute Projektionsfläche noch lange kein gutes Buch; und wahre Perlen des Genres sind äußerst selten.
Nun ist aus Kanada gerade ein Roman gekommen, der das Genre auf höchst lesenswerte Weise bereichert. Der Autor Shyam Selvadurai, 1965 in Sri Lanka geboren und im Alter von 19 Jahren mit seiner tamilisch-singhalesischen Familie nach Kanada emigriert, hat in seinem ersten Roman „Funny Boy“ fraglos auch viel Autobiographisches verarbeitet. Und hat sich dabei einen bewundernswert nüchternen, klaren Blick auf die Dinge bewahrt. Selvadurai erzählt die Geschichte einer Kindheit in Colombo im Vorfeld des srilankischen Bürgerkriegs. Der junge Held Arjie und seine Familie gehören zum Establishment. Zwar sind sie Tamilen, doch gut integriert in ihre singhalesische Umgebung, erfolgreich und wohlhabend. Arjies frühe Kindheit verläuft wohlbehütet und sorglos. Doch so ganz allmählich zeigt der Kokon, der ihn zu umgeben schien, die ersten Risse. Er muß lernen, daß es eine Rolle spielt, ob der Mann, den seine Lieblingstante heiraten darf, Tamile oder Singhalese ist, und hört von grauenhaften Dingen, die zwischen den Volksgruppen passiert sind. Zudem erfährt er zu seiner Bestürzung, daß die Erwachsenen es mehr als seltsam finden, wenn er sich für sein Lieblingsspiel mit den Cousinen als Braut verkleidet.
Mit dem Verdonnertwerden zum Kricketspielen mit den anderen Jungen beginnt für Arjie die konfliktreiche Suche nach der eigenen Identität. Dabei hat er es schwerer als die weitaus meisten, wenn sie erfahren, daß die Welt ganz und gar nicht so ist, wie man sie gerne hätte. Denn Arjie ist anders als die anderen. Anders als die Singhalesen, denn er ist ja Tamile. Anders als die Tamilen, da er nur Singhalesisch spricht. Anders als die Mädchen, denn die dürfen ungestraft Braut spielen. Und schließlich anders als die anderen Jungen. Eben „Funny“.
Und aus dieser großen Konfliktmasse ist ein Roman entstanden, der leichter und unangestrengter nicht geschrieben sein könnte. Der zunehmend blutig werdende ethnische Konflikt, Arjies schwules Coming-out, die politische Verfolgung von Freunden und Verwandten – das sind wichtige und schreckliche Dinge im Leben des Jungen, und er muß einfach irgendwie mit ihnen zurechtkommen. Punkt. Es gibt kein Pathos, keine sentimentalen Schnörkel, keine verkrampften Plädoyers für Toleranz. Selvadurai hat das alles nicht nötig, denn seine Geschichte spricht für sich selbst. Er hat etwas zu erzählen, Schönes wie Furchtbares, und er erzählt es ganz einfach immer geradeaus. Man folgt ihm gern. Katharina Granzin
Shyam Selvadurai: „Funny Boy“. Aus dem Englischen von Christiane Mothes. Bollmann Verlag, Mannheim 1996, 320 Seiten, 39,80 DM
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