■ Zum Einstieg in eine rot-grüne Republik fehlt das Pathos: Ein rot-grünes Projekt gibt es nicht
Eigentlich war Rot-Grün schon out. Doch plötzlich gewinnt diese Farbenkombination wieder Strahlkraft. Es ist schon merkwürdig, aber es ist so: Die Niederlage der Sozialdemokraten bei Landtagswahlen wird zum Plebiszit für eine rot-grüne Reformalternative uminterpretiert. Das linksliberal-sozialdemokratisch-ökologische Deutschland jedenfalls gibt sich in diesen Tagen siegesgewiß: Die Ära Kohl, so heißt es, geht zu Ende. Sozialdemokraten und Grüne werden in Bonn die nächste Bundesregierung stellen. Dann ist Schluß mit der geistigen Stagnation, mit dem lähmenden konservativen „weiter so!“. Dann wird die Gesellschaft endlich reformiert.
Doch da mag sich mancher schwer täuschen. Im Grunde spricht nichts dafür, daß wir vor dem großen gesellschaftlichen Aufbruch, vor der Zeitenwende zur sozial-ökologischen Reform stehen. Solche Erwartungen sind reines Feuilleton. Grün und Rot, das addiert sich bestenfalls arithmetisch zu einer Mehrheit – und selbst das ist höchst zweifelhaft –, aber es bündelt sich nicht zu einer konsistenten Reformalternative. Es gibt diese Reformalternative nicht. Eben das war ja die Tragödie im Wahlkampf 1994. Alle Welt wußte, daß mit der ausgepowerten Regierung Kohl nicht mehr viel Staat zu machen war. Aber niemand hatte den Eindruck, daß sich dazu eine zwingende, überzeugende, mitreißende Alternative aufdrängte. Sie existierte damals nicht; und sie existiert auch heute nicht.
Richtig: Kohl hat keine Lösung für die Zukunftsprobleme. Aber ebenso richtig und fatal ist, daß Sozialdemokraten und Grüne auch nichts zu bieten haben. Rot-grüne Außenpolitik? Niemand kann sagen, was einen da erwartet. Rot- grüne Wirtschaftspolitik? Keiner hat eine Vorstellung, wieviel Markt, wieviel Keynes auf die Gesellschaft zukommt. Rot-grüne Bildungspolitik? Nicht ein einziger origineller und kreativer Gedanke ist dazu bekannt; in rot-grünen Ländern etwa sind die Hochschulen genauso verloddert wie im Rest der Republik. Rot- grüne Innen- und Rechtspolitik? Was wird da mit dem Asylkompromiß, mit den Lauschangriffen? Kein Mensch weiß es, und wetten: es wird auch in nächster Zeit keineswegs geklärt. Denn das rot- grüne Experiment darf nicht gefährdet werden, also sind wirkliche Konfliktthemen tabu, nur symbolisch darf gezankt werden. Das ist dann Realpolitik.
Rot-Grün ist nicht mehr als eine Metapher, als ein vages Lebensgefühl, immerhin vielleicht, aber es ist eben kein politisches Projekt. Es besitzt keinen Entwurf, keinen Plan.
Und das liegt keineswegs in erster Linie daran, daß die beiden Parteien der projektierten Reformkoalition zu weit auseinanderliegen. Es ist viel schlimmer: Sie haben auch jede für sich keine Konzeption. Grüne und Sozialdemokraten führen schon seit Jahren innerparteilich keine ernsthafte außenpolitische Diskussion mehr. Sie belassen es bei heimeligen Parteitagsbeschlüssen zur Friedfertigkeit in aller Welt, definieren keine Interessen mehr, verschließen die Augen vor auswärtigen Konflikten. Das ist nicht pazifistisch, das ist spießig, entspricht aber ganz dem Ruhebedürfnis des linksliberalen- sozialdemokratischen Juste milieu der Republik. In der Wirtschafts- und Finanzpolitik liegen die Dinge ähnlich. Natürlich, Scharping und Fischer sehen diese Defizite. Auch sie wissen, daß man mit den Resolutionen ihrer Parteien nicht eine Woche in Bonn regieren kann. Aber sie rütteln nicht daran. Denn das würde Streit auslösen, die Zentrifugalkräfte in ihren Parteien freisetzen. Also wird die innerparteiliche Debatte stillgelegt.
Deshalb wirken die Sozialdemokraten so vorgestrig wie eine sozialpolitische Traditionskompanie mit dem Charme der Arbeiterwohlfahrt. Denn nur in der sozialpolitischen Agitation gegen die „sozialen Schweinereien“ der Regierung findet die Partei zusammen; allein hier besteht ein Konsens, der sämtliche Lager und Flügel der Partei eint. In allen übrigen Fragen aber fällt die Partei und ihr Wählerpotential weit auseinander, sind Traditionalisten und Modernisierer, Linke und Rechte nur mühselig, wenn überhaupt zusammenzuhalten. Und daher kommt die SPD in allen Fragen jenseits der Sozialpolitik nicht voran; daher stagniert sie, verpaßt den Anschluß an die Moderne, stürzt in den Dienstleistungsstädten und -berufen ab, verliert die junge Generation der Republik.
Für die Sozialdemokraten war Rot-Grün bisher lediglich ein Flop. Das Bündnis mit den Postmaterialisten brachte die modernen Wähler nicht zurück, stieß aber die Stammwähler weiter ab. Das war jedenfalls die Erfahrung der letzten Jahre in den bundesdeutschen Metropolen, in Berlin, Frankfurt und München. Hier hatte Rot- Grün Premiere, und die Erwartungen der Akteure und des Publikums waren gewaltig. Die urbanen Zentren sollten zu Laboratorien des sozialökologischen Experiments werden, sollten den politisch-kulturellen Wandel in Deutschland einläuten, den Machtwechsel in Bonn vorbereiten und vorwegnehmen. Nichts dergleichen trat ein. Das gesellschaftliche Fundament für Rot- Grün wurde in den Metropolen schmaler, nicht breiter. Die Sozialdemokraten trieb das Bündnis noch weiter in die Krise; ihre Wählereinbußen waren eklatant. Vor allem aber: Von Rot-Grün ging nirgendwo ein Emanzipationsschub aus, keine Welle neuen gesellschaftlichen Engagements, der verstärkten Partizipation. Der Aufbruch fand nicht statt. Die rot- grüne Reform war Sache kommunaler Eliten, ganz ohne gesellschaftlichen Unterbau und ohne aktive Unterstützung in der Bevölkerung.
Rot-Grün hat die Gesellschaft nicht bewegt. In rot-grünen Zentren ist die Wahlbeteiligung der Jungwähler besonders niedrig. Und große Teile der Arbeiterschaft und der Sozialhilfeempfänger bleiben hier an Wahltagen erst recht zu Hause, fühlen sich parlamentarisch nicht mehr repräsentiert, klinken sich politisch regelrecht aus. Die Kohl-Regierung mag die Gesellschaft sozial gespalten haben; Rot-Grün aber hat die Spaltung kulturell noch vertieft. Zwischen den Avantgardisten und den Verlierern der postmaterialistischen Moderne liegen Gräben: im Lebensstil, im Habitus und natürlich auch in den sozialen Interessen. Das hat die bürgerlichen Grünen im übrigen nie gekümmert. Allein die Sozialdemokraten leiden darunter, wissen aber keinen Weg aus der Misere.
Rot-Grün hat die Gesellschaft nicht mobilisiert, die Parteien aber weiter entpolitisiert. In den urbanen Stadtparteien der Grünen und der Sozialdemokraten finden Kontroversen nicht mehr statt. Früher waren die Grünen wohl ein wenig chaotisch, heute sind sie nur noch staatsmännisch, ja langweilig. Junge Leute zieht das nicht an. Wer unter 40 ist, verirrt sich nicht in grüne Parteiversammlungen, soweit es sie überhaupt noch gibt. Noch wählt ein beachtlicher Teil der Jungwähler die Grünen, aber sie tragen ihre Politik nicht aktiv mit. Das ist die Achillesferse der Partei. Die Grünen sind längst nicht mehr Bewegung, sie sind Elitezirkel, sind im Grunde Honoratiorenpartei der akademisch gebildeten mittleren Generation.
Eben wie früher die Liberalen. Vielleicht treten sie deren Erbe tatsächlich an. Schließlich kümmern sich auch die Grünen nicht mehr um programmatisch-konzeptionelle Klärungen. Zwischen den Programmsätzen von einst und der Tagespolitik von heute klaffen auch bei ihnen Welten. Die Grünen werden zum Zünglein an der Waage in den Koalitionsspielen der Republik. Und sie genießen es. Aber: eine Strategiediskussion führen sie darüber nicht. Es gibt die schwarz-grünen Koalitionen in den Kommunen und in den Kalkülen der Medienkommentatoren; und es gibt die rot-grüne Machtperspektive in Bonn. Wie das alles zusammengeht, zu welchem Zweck, mit welchem Ziel man welche Koalition eingeht, darüber wird bei den Grünen nicht geredet, schon gar nicht offen disputiert.
Das verhindert schon der große Zampano Joseph Fischer, der immer mehr in die Fußstapfen des Virtuosen der taktischen Machtpolitik, von Hans-Dietrich Genscher also, tritt. Die Grünen ersetzen offensichtlich die FDP. Aber müssen sie unbedingt deren Fehler wiederholen?
Schon einmal erwartete das linksliberale Deutschland den Reformaufbruch. Das war 1969. Doch hielt nur die neue Ostpolitik damals die sozial-liberale Reformkoalition zusammen. In der Innenpolitik war sie ohne Grundlage und Programm. Aber der Reformpathos des Machtwechsels und der Brandtschen Metaphorik hatten Ansprüche geweckt, die dann frustriert wurden. Bereits Ende 1972, schon vor den wirtschaftlichen Krisen und der Kanzlerschaft Schmidts, erlahmte der reformerische Schwung in der Gesellschaft. Die Reformrhetorik war diskreditiert, auf lange Dauer. Nicht zuletzt das hat Helmut Kohl eine lange Amtszeit in der doch eigentlich postmaterialistischen Gesellschaft beschert. Reformer haben es eben schwerer als Konservative. Reformer verlangen den Menschen mehr ab: den Bruch mit den herkömmlichen Gewohnheiten und die Bereitschaft zum politischen Engagement. Reformregierungen brauchen daher erst recht einen aktiven gesellschaftlichen Unterbau und einen stringenten Entwurf für eine Regierungspolitik. Rot- Grün hat beides nicht. Das kann die Reformhoffnungen ein zweites Mal in der Geschichte dieser Republik kompromittieren. Zu erwarten ist jedenfalls nur ein rot- grünes statt ein schwarz-gelbes muddling through. Aber wer wartet schon darauf?
Franz Walter
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