Zum Abschluss der Filmfestspiele in Cannes: Die Omnipräsenz von Laptop und iPhone
Zu Recht wurde Terrence Malicks Delirium der ersten und der letzten Dinge, "The Tree of Life", die Goldene Palme verliehen. Ein nicht immer überzeugender Wettbewerb.
Terrence Malick scheut den öffentlichen Auftritt. Noch im Augenblick des größten Triumphs hält sich der 67 Jahre alte Regisseur im Hintergrund. Als sein Film "The Tree of Life" am Sonntagabend in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, kamen an seiner Statt die Produzenten Bill Pohlad und Dede Gardner auf die Bühne des Grand Théâtre Lumière, wo ihnen Jane Fonda den Preis überreichte.
Dass sich die Jury unter Vorsitz von Robert De Niro für Malicks "The Tree of Life" entschied, lag umso näher, als dieser Film aus dem diesjährigen, nicht immer überzeugenden Wettbewerbsprogramm weit herausragte. Der Regisseur verknüpft darin die Geschichte einer weißen Durchschnittsfamilie im Texas der 50er Jahre mit der Erschaffung der Welt; das Ergebnis ist eine rahmensprengende Reverie, ein Delirium der ersten und der letzten Dinge und zugleich ein Grundkurs in Sachen Psychoanalyse.
Die Entstehung der Welt
Recht früh im Film lässt sich eine fast 20-minütige Sequenz bestaunen, die die Entstehung der Welt nachempfindet. Es ist ein großes Pulsieren, Wabern, Blubbern, Fließen und Strömen. All die stellaren Nebel, all die explodierenden Gestirne, all die Magmamassen und Wasserstrudel haben dabei einen doppelten Charakter. Denn ob sich die Kamera durch die Weiten des Alls bewegt oder durch das Innere einer Gebärmutter, ist nicht in jeder Einstellung mit Sicherheit zu sagen. Die kosmische Ursuppe und das Fruchtwasser fließen zu einer Leinwandversion des ozeanischen Gefühls zusammen. Das Embryonalstadium der Welt setzt Malick mit dem Embryonalstadium des Protagonisten in eins, getreu der These, dass sich in der Entstehung eines jeden individuellen Menschenlebens die Erschaffung der Art noch einmal vollzieht.
Die spektakuläre Sequenz endet entsprechend mit der Geburt des Protagonisten Jack OBrien, an dessen Perspektive sich der Film im Folgenden anschmiegt. Licht- und glücksdurchflutet sind die Bilder des ersten Teils, in dem die Liebe der von Jessica Chastain gespielten Mutter die Strenge des von Brad Pitt gespielten Vaters überdeckt. Je mehr Raum diese Vaterfigur einnimmt, desto weniger Licht und Glück pulsieren durch den Film. In seinen theoretischen Prämissen hat "The Tree of Life" etwas entschieden Gestriges. Trotz dieser Gegenwartsferne war es der Film, der im Laufe des Festivals wuchs, wieder und wieder in die eigenen Gedanken und in die Gespräche mit anderen zurückfloss und all die anderen Filme überstand, die auf ihn folgten.
Das heißt nicht, dass es in diesem Jahr in Cannes an guten Filmen gemangelt hätte. Aki Kaurismäkis "Le Havre" etwa war ein schönes Beispiel für den lakonischen Humanismus des finnischen Regisseurs. Bernard Bonellos "LApollonide - Souvernirs de la maison close" erzählte sehr bewegend vom Niedergang eines Bordells im Fin-de-siècle-Paris, und Nicolas Winding Refns Actionfilm "Drive" war ein tolles guilty pleasure. Zwei neue Filme aus Iran, Mohammad Rasoulofs "Bé omid é didar" (Auf Wiedersehen) und "In film nist" (Dies ist kein Film) von Jafar Panahi und Mojtaba Mirtahmasb, überzeugten durch ihren Mut, ihre List und ihre Unbeugsamkeit.
USB-Stick im Kuchen nach Frankreich geschmuggelt
"In film nist" wurde auf einem USB-Stick, der wiederum in einen Kuchen eingelassen war, nach Frankreich geschmuggelt. Das erzählte Serge Toubiana, der Direktor der Cinémathèque française, auf einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz am Freitagnachmittag. Neben ihm saß Mojtaba Mirtahmasb, der Koregisseur von "In film nist", Panahi hatte sich via Skype zugeschaltet, sodass er zu Hause in Teheran sehen und hören konnte, was die Journalisten an der Croisette wissen wollten.
Die Neuerungen der Kommunikationstechnologie helfen also, die Repressalien des iranischen Regimes zu umgehen; und es nimmt nicht wunder, dass diese neuen Technologien auch im Film eine große Rolle spielen. Laptop und iPhone sind omnipräsent. Je kleiner die Apparate werden, mit denen man filmen kann, desto absurder erscheint das über Panahi verhängte Verbot, zu filmen. Zugleich wurde bei der Pressekonferenz anschaulich, wie viel Vorsicht geboten ist. Serge Toubiana betonte mehrmals, dass das Festival mit der Einladung der beiden Filme keine politischen Absichten verfolge. "Wir wollen keine Revolution machen oder eine Regierung stürzen", sagte er, "wir verteidigen die Freiheit des Kinos." Als eine Journalistin fragte, ob es für Mirtahmasb nicht besser sei, in Frankreich zu bleiben, trommelten Toubianas Finger ungeduldig auf dem Tisch. Ganz offensichtlich handelte es sich um eine unvorsichtige Frage, aus der sich Mirahmasb mit großem Geschick herauswinden musste, indem er betonte, wie verbunden er sich seinem Land fühle.
Die Willkür des Skandals
Wurde hier um jedes Wort gerungen, kannte ein anderer Regisseur kein Halten: Lars von Trier redete sich bei der Pressekonferenz zu seinem Wettbewerbsbeitrag "Melancholia" in den größten Unfug seiner an dummen Sätzen reichen Laufbahn hinein. Seine Auslassungen über Hitler, Juden, Israel und Albert Speer mündeten in den Satz: "Okay, ich bin ein Nazi." Das Festival reagierte darauf zunächst angemessen kühl und entschieden, indem es sich die Entgleisung verbat und den Regisseur dazu aufforderte, sich zu entschuldigen, was von Trier auch tat. Einen Tag später erklärte es den Dänen dann doch zur Persona non grata - ein Präzedenzfall, der dazu führte, dass der Affäre jede Verhältnismäßigkeit verloren ging.
Und das umso mehr, als man sich am Tag nach der Verbannung von Triers einen Wettbewerbsbeitrag anschauen musste, der die Trivialisierung des Holocaust weit vorantrieb. In Paolo Sorrentinos "There Must Be a Place" sind, als kleiner Schockeffekt für zwischendurch, Bilder von nackten, ausgezehrten KZ-Insassen und von Leichenbergen zu sehen; am Ende wird ein uralter KZ-Wärter dazu gezwungen, sich nackt auszuziehen und in eine verschneite Landschaft hinauszutreten. Die Aufnahmen von dem frierenden alten Mann erinnern fatal an die zuvor gezeigten Bilder. Sorrentinos filmische Taktlosigkeiten wogen mindestens genauso schwer wie der Verbalausfall von Lars von Trier; sie freilich blieben vollkommen unbeanstandet. Worüber sich die Öffentlichkeit erregt, was Skandal macht, ist offensichtlich willkürlich und reflexhaft.
Großen Grund zur Freude hat dagegen Andreas Dresen: Sein Film "Halt auf freier Strecke" wurde in der Nebenreihe "Un certain regard" gezeigt und gewann, gemeinsam mit "Arirang" von Kim Ki-duk, den Hauptpreis. Einprägsam ist die Eröffnungssequenz: Ein Mann und eine Frau, beide Mitte 40, sitzen in einem Sprechzimmer. Gefilmt sind sie in einer nahen Einstellung, hinter ihnen steht ein Bücherregal mit medizinischen Nachschlagewerken, der Gegenschuss auf den Arzt, der ihnen gegenübersitzt, bleibt lange Zeit aus, das heißt: Man hört den Mediziner, ohne ihn zu sehen. Nüchtern diagnostiziert er einen Gehirntumor in fortgeschrittenem Stadium. Frank (Milan Peschel), der Patient, guckt versteinert, Simone (Steffi Kühnert) stehen Tränen in den Augen. Das Telefon klingelt, der Arzt geht ran, redet lange und lässt dabei das Paar allein mit sich. Als er schließlich zu telefonieren aufhört, redet er weiter, immer noch aus dem Off, seine Sachlichkeit steht in frappierendem Gegensatz zur Schwere der Diagnose: Der Tumor ist nicht mehr operierbar, wenn Frank Glück hat, bleiben ihm drei Monate.
Auch in "Halt auf freier Strecke" spielt das iPhone eine große Rolle, es ist Frank ein Gegenüber in dunklen Momenten. Er filmt sich und seine Umgebung, und er vertraut dem Gerät die Dinge an, die er seiner Frau und seinen Kindern nicht zumuten möchte. In einer Szene nutzt er eine der Applikationen, die aufnehmen, was man ins Mikro spricht, und es dann mit lustig verzerrter Stimme wiedergeben. Frank sagt: "Ich habe einen Gehirntumor." Das iPhone wiederholt den Satz quietschvergnügt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“