Zum 3.Oktober: Amnestie, aber wie und für wen?
■ Die Amnestie für DDR-Spione ist fürs erste auf Eis gelegt. Dennoch könnten nach dem 3.Oktober die deutschen Knäste geleert werden. SPD Berlin, Grüne und Anwälte haben Gesetzentwürfe vorgelegt.
Unbemerkt von Kollegen und Wachpersonal kletterten die vier Gefangenen über den Dachboden nach draußen. Vom Dach der Strafanstalt Brandenburg aus, rund 50 Kilometer westlich Berlin, verlangten sie ultimativ eine allgemeine Amnestie. Nach wochenlangen Diskussionen über mögliche Straffreiheit ehemaliger Stasi-Angehöriger, nach inzwischen etwa einem halben Dutzend mehr oder weniger öffentlich diskutierter Amnestievorschläge, haben die möglichen Nutznießer der Debatte gestern nachmittag erstmals auf spektakuläre Weise auf sich aufmerksam gemacht.
Die Initiatoren aller bisher bekanntgewordenen Amnestieüberlegungen verbindet vor allem eines: Sie wollen verhindern, daß ausschließlich ehemalige Stasi-Angehörige von einer Amnestie aus Anlaß der deutschen Einigung profitieren. Lieblingsidee der SPD ist es, insbesondere diejenigen endlich zu rehabilitieren, die sich einst gegen Pershings, Cruise Missiles oder Giftgas auf die Straße setzten. Eine konkrete Initiative der SPD-Landesregierung in Saarbrücken beschränkt sich allerdings auf „Verstöße geringeren Unrechtsgehalts“. „Schwere Fälle der Nötigung, bei denen die Mindeststrafe sechs Monate beträgt“ werden ausdrücklich ausgenommen. Damit kann sich inzwischen selbst der bayerische CSU-Saubermann Peter Gauweiler anfreunden, der damit — wie die gesamte CSU — hofft, dem Vorwurf der Stasi-Komplizenschaft entgehen zu können.
Da ist kaum verwunderlich, daß „Friedensfreund“ Robert Jungk und viele andere Sitzblockierer geradezu entsetzt auf den Gedanken reagieren, nun praktisch gegen ehemalige Stasi- Aktivisten aufgewogen zu werden. Diese Verquickung sei schlicht „geschmacklos“, schuldig seien nicht die Blockierer, sondern diejenigen, die Massenvernichtungsmittel bereithalten.
Robert Jungk, Heinrich Albertz, Tatjana Böhm, Günther Grass, Jens Reich und Christa Wolf sind taktischer Überlegungen im Zusammenhang mit der Amnestiediskussion völlig unverdächtig: Gemeinsam mit zahlreichen anderen Prominenten und vielen Kirchenleuten unterschrieben auch sie einen Appell, der jedoch lange vor der aktuellen Stasi-Debatte ausgeheckt worden war. Das Anliegen der ursprünglichen Initiatoren aus der Evangelischen Studentengemeinde in München geht weit über die bisher genannten „Straftäter“-Gruppen hinaus.
Vorgeschlagen wird eine Amnestie „für alle zu lebenslangen Freiheitsstrafen Verurteilten, die länger als zehn Jahre im Gefängnis sind“. Zeitstrafen sollen generell um ein Drittel verkürzt werden. Der Appell, der sich an das neue und das neu zu wählende gesamtdeutsche Parlament richtet, bezieht ausdrücklich Gefangene ein, „die wegen politisch motivierter Straftaten inhaftiert sind“. Eine Amnestie von RAF- und anderen politischen Gefangenen bedeute einen „Akt der Souveränität“, heißt es zur Begründung. „Der Staat wäre so frei, seine ehemaligen Feinde für eine neue, gewaltlose Lebensperspektive in Freiheit gewinnen zu können.“
Die Grünen haben in ihrem gestern in den Bundestag eingebrachten Entschließungsantrag einen zentralen Teil der Begründung des Vorstoßes aus München fast wortgetreu übernommen. Mit Blick auf die Ängste im Ausland angesichts des deutschen Machtzuwachses, könne eine Amnestie ein Zeichen dafür setzen, „wie es um die demokratische, friedliche und humane Größe eines vereinigten Deutschlands“ bestellt sei. Ansonsten weicht der Antrag der Grünen erheblich von den Vorstellungen des Münchner Promi-Aufrufs ab.
Zeitstrafen will die Grünen-Fraktion grundsätzlich halbiert sehen (also stärker verkürzen), lebenslange Haftstrafen jedoch nur auf fünfzehn Jahre beschränken. Außerdem sollen bestimmte Straftatbestände (Landesverrat, Kriegsdienstverweigerung, Volkszählungsboykott, Bildung und Werbung oder Unterstützung für eine kriminelle oder terroristische Vereinigung, Drogenbesitz zum Eigenkonsum, Gotteslästerung, Schwangerschaftsabbruch, homosexuelle Handlungen) generell amnestiert, andere (Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord und Sexualverbrechen) ausgenommen werden, wenn Wiederholungsgefahr besteht.
Höchst pragmatische Motive für ihre Amnestievorschläge treiben derzeit Berliner Regierungspolitiker in Ost und West und Generalstaatsanwalt Hans-Joachim Heinze um. Am 4. Oktober nämlich dehnen die Westberliner Staatsanwälte und Richter ihre Zuständigkeit auf den Gesamtberliner Raum aus, während ihre Ostberliner Amtskollegen allesamt (anders als in der übrigen DDR) in den Wartestand versetzt werden. Dann sehe er „Land unter“, sagte Heinze gegenüber der taz und forderte Generalamnestie „unterhalb eines festzulegenden Strafmaßes“.
Eine Beschränkung auf Volkszählungsboykotteure und pazifistisch gesonnene Blockadeteilnehmer, wie sie die Westberliner Justizsenatorin Jutta Limbach (SPD) vorgeschlagen hatte, sei zu eng. Schließlich stehe ein „mittleres Chaos“ bevor, „wenn wir ohne einen Mann mehr plötzlich 60 Prozent mehr Bevölkerung zu bedienen haben“. Bedient werden müssen unter anderem sämtliche Ostberliner Häftlinge, die nach dem 3. Oktober in Westberliner Knäste verlegt werden. Sollte ein großzügiges Amnestiegesetz weder vor noch nach dem 3. Oktober zustande kommen, denkt das Ostberliner Stadtparlament bereits über alternative Lösungen nach: Innenstadtrat Thomas Krüger (SPD) will die Knackis dann eben auf dem Gnadenwege in die Freiheit entlassen.
Die vier „Meuterer“ auf dem Dach der Strafanstalt Brandenburg kann das kaum befriedigen: Im künftigen Bundesland Brandenburg gelten auch nach dem Wahltag am 14.Oktober andere Regeln als in Berlin — und die ganz große Amnestie läßt auf sich warten. Gerd Rosenkranz/usche
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