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Zuhören in einer kleinen DorfkircheHerr Rakow und die Schwamm-Theorie

Eine Dorfkirche in der Wesermarsch ist seit Jahren regelmäßig Schauplatz hochkarätiger und ungewöhnlicher klassischer Konzerte. Die Atmosphäre hier ist intensiver als anderswo, das Publikum viel näher – und dankbarer.

Große Gagen gibt es für die KünstlerInnen hier hinter dem Deich nicht zu verdienen: Aber die Akustik ist hervorragend und das Publikum aufnahmefähig wie ein getrockneter Schwamm. Bild: Jan Zier

BERNE-WARFLETH taz | Wenn man hinter dem roten Backsteinkirchlein den Deich hochsteigt, an den Schafen vorbei, kann man Bremen gerade noch sehen. Auf der anderen Flussseite. Trotzdem ist man hier in der Wesermarsch schon weit draußen, tief in der, ja: Provinz. Ein schmales Sträßchen schlängelt sich an den vielfach reetgedeckten Häusern vorbei, macht eine scharfe Kurve dort, wo sich St. Marien in den Deich presst. Die Dächer sind oft tief hinunter gezogen und wo die offenen Gärten enden, beginnt schon die Weite des Marschlandes. Der nächste Supermarkt ist ein paar Kilometer entfernt, der Bäcker auch, und der Schule fehlen etwas die SchülerInnen.

Dafür gibt es in der Schifferkirche, wie sie sie hier nennen, ein wirklich hochkarätiges Kulturprogramm. Und zwar: regelmäßig. Acht bis zehn Konzerte sind es jedes Jahr, die ersten Termine für 2017 stehen jetzt schon fest, und bis dahin ist eh alles fertig geplant. Und doch ist jedes einzelne dieser Konzerte hier draußen noch ein richtiges Ereignis. Bis aus Hamburg oder Köln reisen die Leute an – aus Leer, Vechta, Oldenburg oder dem Ammerland ja sowieso. Und jeder, wirklich jeder der KünstlerInnen, die hier auftreten, hat in der Szene einen großen Namen. Nicht selten kommen sie mit einem Programm, das eigens für Berne-Warfleth konzipiert wurde.

Zum Niederknien schön

Die US-amerikanische Pianistin Nina Tichman beispielsweise gastiert öfters hier. Sie ist Professorin an der Kölner Hochschule für Musik. Von ihrer Klavierklasse heißt es manchmal, sie sei eine der besten in Deutschland. Auch die vielfach preisgekrönte amerikanische Geigenvirtuosin Ida Bieler spielt öfters in Warfleth, auch sie ist seit Langem eine Professorin, mit Meisterklasse. Über die Sopranistin Anna Lucia Richter, die am 11. April auftreten wird, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung mal, ihr Gesang sei „zum Niederknien schön“. Und so weiter.

Wegen des Geldes kommen sie nicht, viel mehr als 120 Zuhörer finden hier in der Kirche kaum Platz, und die Karten kosten manchmal nur 20 Euro. Schüler, Studenten und Erwerbslose kommen sogar umsonst rein. Und ein paar Freikarten gibt’s auch – nicht für örtliche Honoratioren, sondern für Landfrauen und Musikschulen. Große Gagen gibt’s also nicht zu verdienen. Dafür ist die Akustik hervorragend. Ein italienischer Akkordeon-Virtuose wollte sogar mal Plattenaufnahmen hier machen; daraus wurde dann aber nichts. Und Sänger sagen, in St. Marien müsse man viel genauer singen: „Sonst hört man gnadenlos jeden Fehler.“

Ein Konzert in Warfleth ist ein bisschen wie die Tour durch kleine Clubs, die große Bands manchmal machen. Denn während die PianistInnen oben auf den Podien der großen Konzerthäuser dieser Republik schon in der ersten Reihe weit weg sind, begegnen ihnen die Leute hier in Warfleth auf Augenhöhe. Und sprechen sie hinterher an. Sie sitzen den KünstlerInnen beinahe auf dem Schoß und noch ganz hinten kann man ihren Anschlag der Tasten sehen, kann man sie atmen, umblättern hören. Das gibt es weder in der Hamburger Laeiszhalle noch in der Bremer Glocke. „Viele der Interpreten wissen diese besondere Intensität zu schätzen“, sagt Reinhard Rakow, der Organisator von „Berne bringt“.

Rakow war früher mal Rechtsanwalt, Fachgebiet Baurecht, dazu Notar. Aber er ist auch Schriftsteller und Maler und Herausgeber von Büchern. Vor 15 Jahren hat er mal in Edewecht, einer kleinen Ortschaft nahe Oldenburg, die Leitung des örtlichen Kulturvereins übernommen. 2008 wechselte er nach Berne, kurz nachdem er die Juristerei, wie er sagt, „freudig an den Nagel hing“.

Rakow ist einer, der Sätze sagt, die mit „Adorno hat mal gesagt“ beginnen oder mit einem beiläufigen „Um es mit Bourdieu zu sagen“ oder „Glenn Gould hat mal geschrieben“. Und er ist einer, der einen Auftrag hat, ein Ziel, eine Mission: Er will die Menschen mit Kultur, ja: „beglücken“. Und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil sie eben in der Provinz leben.

Der bisweilen schnöselige oder auch herablassende Blick der Städter auf das vermeintlich kulturferne Landvolk ist ihm zuwider: „Warum sollen nur die großen Zentren gesegnet werden von großen Namen?“ Auch die Provinz habe kulturelle Leistungen verdient, sagt Rakow, und dann kommt doch noch einmal der Jurist in ihm durch, wenn er von den „gleichwertigen Lebensverhältnissen“ spricht, die das Grundgesetz postuliert. „Dankbarer“ seien die Leute hier draußen, sagt Rakow, und auch deutlich „interessierter“ als in der Stadt.

Natürlich kommen sie auch wegen der großen Namen, mittlerweile jedenfalls, und weil sie damit hier draußen sonst nicht so verwöhnt sind. Doch auch hier werden sie anspruchsvoller, differenzierter. Ob das Programm auch ohne den Promi-Faktor funktionieren würde? „Ich weiß es nicht“, sagt Rakow.

Handverlesene Auftritte

Wer in dieser kleinen Konzertkirche am Deich auftritt, ist von ihm handverlesen, Rakow ist in der Szene gut vernetzt, mit Tichman seit zehn Jahren schon befreundet. Er engagiert seine Interpreten immer vorbei an den Agenturen, schon weil die ja mitverdienen wollen. „Ich suche Künstler, die mitmachen, als Kumpan“, sagt Rakow. Mittlerweile rufen die Künstler sogar selbst bei ihm an, Graham Johnson etwa, ein englischer Pianist, der sich mit Schuberts Liedschaffen große Verdienste erworben hat und nun, 2016, zu Schuberts Geburtstag, in Berne-Warfleth spielen wird.

Rakow geht es aber nicht nur um die Kultur in der Provinz. Sondern auch darum, wie die Klassik, heutzutage, gerade, unter die Leute kommt. „Ich will das übliche Procedere durchbrechen“, sagt er. Die Zuhörer sollen nicht einfach kommen und das Konzert absitzen, möglichst ohne zu husten. Und er will auch nicht nur das in dieser Szene übliche grauhaarige Bildungsbürgerpublikum ansprechen.

Also spricht er bei Bach auch über das Frauenbild, also wird Nina Tichman erst einmal interviewt, ehe sie die Goldberg-Variationen zaubert, alle übrigens, also inklusive der Wiederholungen. Also wird an einem Konzert am 9. November Paul Celans Todesfuge zitiert. „Man hört dann auch die Musik anders“, sagt Rakow.

Und wenn am Samstag die „Sieben Todsünden“ auf dem Programm stehen, wird es neben allerlei Liedern und der Uraufführung einer Komposition des anderswo gefeierten jungen Israelis Matan Porat auch szenisch kommentierenden Tanz geben, nach Kurt Weills Ballett zum Thema. Rakow will zeigen, dass Liedgesang „nicht nur l’art pour l’art und Tralala ist, sondern durchaus von gesellschaftlicher Relevanz sein kann“.

Rakows Programme muten den Leuten durchaus einiges zu. Das komplette Notenbüchlein der Anna Magdalena Bach mit James Maddox am Klavier etwa nahm im vergangenen Jahr gute vier Stunden in Anspruch. Gerne würde er auch einmal sehr moderne, also: „Neue Musik“ ins Programm heben, so richtig atonal, und laut und quietschend soll es sein, sagt er, und seine Augen leuchten dabei. „Aber das wird noch etwas dauern.“ Da ist Rakow ein bisschen Pädagoge; er wolle das Publikum langsam an die Musik der Gegenwart heranführen, sagt er.

Wirtschaftlich ist das Ganze am Ende natürlich ein Nullsummenspiel: Es funktioniert, trotz Sponsoren, nur mit dem ehrenamtlichen Engagement von Leuten wie Rakow. Manchmal fragt er sich, ob er sich nicht lieber für anderes engagieren soll, für Sachen, die elementarer sind, die Tafeln, die Lebensmittel an Bedürftige verteilen, etwa.

„Hochkultur führt nicht per se dazu, dass die Menschheit eine bessere wird“, sagt er dann. Aber natürlich wird er weitermachen. Weil Musik betäubt – um es mit Tucholsky zu sagen. Weil er die Kultur in die Provinz bringen will. Und weil die dafür „die Aufnahmefähigkeit eines getrockneten Schwamms“ hat.

„Die sieben Todsünden“ – Lieder vom Barock bis Kurt Weill: Sa, 20 Uhr, Konzertkirche St. Marien, Deichstr. 120, Berne-Warfleth

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