Zugfahrt mit Meerblick: Die Klippen der Côte d’Azur
Für Eisenbahnfans und Mittelmeerliebhaber: Eine Bahnreise mit der Ligne bleue entlang der südfranzösischen Küste.
Man möchte fast in Marseille wohnen, nur für diesen Seitensprung! Was heißt Sprung, eher das englische „sidestep“, schon ein paar Schritte zur Seite genügen.
Wir stehen in den luftigen Bahnhofshallen der alten Mittelmeer-Metropole, wo täglich etwa dreihundert Züge ankommen und wieder abfahren, und wo es noch quirliger zugeht als draußen in den Straßen der Stadt, die wir über eine monumentale Treppe hoch zum „St. Charles“, wie der Hauptbahnhof heißt, soeben hinter und unter uns gelassen haben. An den Schaltern mäandern die Schlangen durch die dafür vorgesehenen Absperrungen aus Bändern.
Wir haben aber sicher anderes im Sinn als uns die nächste halbe Stunde zwischen gestresste und möglichst noch laut telefonierende Menschen einzureihen. Von einem Einheimischen, der sich gerade am Automaten seine Fahrkarte besorgt, erfahren wir, dass ein hier problemlos zu lösender „ZOU!-Pass“ für uns genau das Richtige sei.
Anscheinend wollen wir dahin, wo keiner hin will. Das merken wir aber erst am leeren Bahnsteig. Es sei der hinterste, hatte der hilfsbereite Mann uns noch mit auf den Weg gegeben, ganz links. Wir passierten also all die von ameisenhaft aufgeregten Reisenden frequentierten Gleise bis zu den alleräußersten, wo es plötzlich ganz ruhig ist und unser kleiner blauer Zug der Ligne bleue ein Nickerchen zu machen scheint. Außer uns steigen noch drei vergnügte Mädchen mit Badegepäck ein.
„Setzen Sie sich nach links, sagt die freundliche Schaffnerin, dann sehen Sie das Meer!“ Los geht die Reise wie im Märchen vom Schlaraffenland – erst muss sich unser nun leise vor sich hin quietschendes Züglein durch die hässliche, vermüllte Peripherie einer modernen Großstadt fressen, bis es nach etwa zehn Minuten aus den grauen, verwahrlosten Betonschluchten ausbricht und uns allem enthebt.
Dümpelnde Fischerboote
Das ist nicht übertrieben. Wir scheinen plötzlich zu schweben. Darüber nachzudenken, ob wir überhaupt schwindelfrei genug sind, ist es jetzt zu spät. Über einen Viadukt, der uns viel zu hoch und zu schmal vorkommt – zum Glück ist kein Mistral! – rollt unser Gefährt munter dem wild zerklüfteten Kalkmassiv Chaine d’Estaque entgegen.
Links von uns das weite Meer mit einem vereinzelten Frachtschiff, unter uns erst Spielzeugautos und später kleine Calanques, diese Kalksteinklippen, die fjordartig ins Meer reichen. Das Wasser ist dort so klar, dass wir teilweise bis auf den Grund sehen können. Vor uns der mit nur wenigen Pinien und Agaven bewachsene steile, zerklüftete Fels und der erste kleine Tunnel, in den wir auch schon mit Signalhupe hineinrauschen. Es ist kuhnacht. Klaustrophobisch sollte man also auch nicht sein. Doch dann gleich wieder dieser unglaubliche Ausblick, Meer bis zum Horizont, die Frioulinseln und unter uns türkisfarbene Buchten.
Nach etwa einer halben Stunde erreichen wir unser erstes Etappenziel – Niolon. Der kleine Bahnhof liegt hoch über einer Bucht mit ihrem winzigen Hafen, drumherum krallen sich ein paar auffallend bescheidene Häuser an die steinigen Schrägen. Auf dem Felsen gegenüber, der die Calanque vor dem offenen Meer schützt, wacht ein 1860 erbautes Fort.
Heute beherbergt es die UCPA, die Union nationale des centres sportifs de plein air, eine Sportvereinigung mit Zentren in ganz Frankreich. In Niolon unterhält sie eine große Tauschschule. Alain Evezard, einer der Leiter, zeigt uns das schlichte weiße Feriendorf, das zwei Zwecken dienen soll – auch jungen Menschen mit kleinem Geldbeutel den Tauchsport zu ermöglichen und soziale Kontakte untereinander herzustellen.
Auch für den kleinen Geldbeutel
Evezard ist überzeugt von dem Konzept. Die komplette Ausrüstung, der Kurs und die Unterkunft würden extrem preisgünstig angeboten, es gebe nur Mehrbettunterkünfte und eine große Kantine für alle. Kommen dürfe, wer wolle – die jüngsten Tauchschüler seien elf Jahre alt, und als jung gelte man hier bis vierzig.
Können auch Leute aus dem Ausland teilnehmen? Selbstverständlich, sagt Alain. Er ist selbst begeisterter Taucher und schwärmt von der Schönheit unter Wasser, besonders hier an der Côte bleue, wie die Küste westlich von Marseille genannt wird. Weil der Mistral aber ungebremst das Rhonetal herunterkomme, sei das Wasser immer deutlich kälter als an der geschützteren Côte d’Azur im Osten. Beliebt zum Übernachten seien übrigens die alten Bunker auf den Klippen.
Wir steigen den kurzen Stich hinab zum Hafen und den drei kleinen Fischlokalen. La Pergola punktet in der Mittagshitze mit seinem dichten Laubdach aus alten wilden Weinstöcken, die diese Loge über den dümpelnden Booten ganz und gar beranken. Es ist angenehm still.
Über die Mole hinweg sieht man hinüber nach Marseille, das vom Dunst als heller Streifen zwischen Bergen und Meer weich gezeichnet wird. Die Mangetouts, winzige, ganz frittierte Fischchen mit zwei hausgemachten Dips, der Poulpesalat und das Jakobsmuschel-Carpaccio sind zu köstlich. Doch wir müssen uns losreißen für ein Rendezvous an der übernächsten Haltestation, Carry-le-Rouet. Einst abgelegenes Fischernest war der Ort mit dem Bau der Ligne bleue ab 1915 plötzlich gut an Marseille angeschlossen und wurde zum wichtigsten Badeort der Côte bleue samt Seglerhafen.
Robert Barnakian wartet dort auf uns, einer der größten Fans von Fernandel. Der so überzeugend komische Schauspieler war von Carry-le-Rouet so sehr angetan, dass er sich nach dem Zweiten Weltkrieg seine stolze Villa auf einen Felsen direkt über dem Hafen bauen ließ. Selbstverständlich ist das Kino hier nach Fernandel benannt. Robert hat es mit Fotos und Briefen des 1903 in Marseille als Fernand Contandin geborenen und 1971 in Paris gestorbenen Künstlers ausgestattet.
Die ab 1952 gedrehten Filme über „Don Camillo“, der im ständigen Widerstreit mit Bürgermeister „Peppone“ liegt, hatten zur Folge, dass Fernandel eines Tages vom Papst höchstpersönlich eingeladen worden war. Das Kirchenoberhaupt habe den berühmtesten aller Pater – neben dem Papst selbst – kennenlernen wollen! Robert ist vernarrt in solche Geschichten.
Für Fernandel-Fans
Fernandels Haus sei an Privatleute verkauft, aber er führe uns trotzdem hin. Tatsächlich macht uns eine strahlende Hausherrin namens Annie auf, weist uns durch den großzügigen Salon zu den Terrassen, von denen aus Fernandel bis hinüber zu seiner Heimatstadt blicken konnte. Von hier aus führt uns Robert eine steile Treppe hinab zum Wasser. Jeden Tag um dieselbe Zeit sei Fernandel, der ein extrem ordentlicher Mensch gewesen sei, von hier aus mit einem Boot zum Fischen rausgefahren.
„Nennen Sie bitte nicht die Adresse“, sagt Annie zum Abschied. Aber – wenn jemand wirklich Fernandel-Fan sei, dann finde er ja ohnehin hierher, und so jemand verweigere sie einen kleinen Besuch nicht.
Wir wollen Roberts Rat nicht folgen, der sagt, es lohne sich nicht, weiterzufahren – so schön sei es nur bis Carry. Er sollte Recht behalten. Schon bald verlässt die Zugtrasse nun die Küste, der Blick auf Industrieanlagen ist ein trister Kontrast. Hey – wir haben doch einen Zou!-Pass, das heißt, wir können den ganzen Tag ein- und aussteigen, wo wir wollen!
Wir werden also sofort wieder in die Gegenrichtung umsteigen, um dann gleich wieder an den Scheiben zu kleben, diesmal rechts, und die herrliche Weitsicht entlang der Küste zu genießen! Leider kommt es ganz anders. Wir fragen eine Schaffnerin nach dem richtigen Gleis. Sie hat aber wohl nicht verstanden, dass wir nicht wie alle anderen auf dem schnellsten Weg nach Marseille wollen, sondern auf dem schönsten!
Das merken wir aber erst, nachdem der Zug abgefahren ist – er ist überfüllt, wir finden keinen Sitzplatz, die Leute funken und simsen, kein Meer weit und breit. Es ist, als ob die Großstadt am Abend ihre Kinder wieder zügig einschlürfen wolle und uns nun versehentlich mit aufgesogen hat.
Dabei war es nur ein kleiner „sidestep“ – diesmal in den falschen Zug. Sollen wir es morgen nicht so machen wie die Mädchen vom Vormittag und einfach mit unserem Badezeug wieder in den kleinen Blauen einsteigen? Eine großartige Idee!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers