„Zütphen-Oratorium“ in Bremen: Was wollen wir feiern?

Bremen war über Jahrhunderte eine Stadt der Ausgrenzung aller Nicht-Reformierten. Nun feierte ein Oratorium die erste evangelische Predigt in Bremen.

Ein Gemälde zeigt Heinrich Gelrie aus Zütphen

In Bremen gefeiert, in Dithmarschen 1524 er­mor­det:­ Reformator Heinrich Gelrie aus Zütphen Foto: Jürgen Howaldt/wikimediaCC

Die Erhebung des Reformationstages zum staatlichen Feiertag ist eine politische Fehlentscheidung. Aber immerhin gibt der freie Tag Gelegenheit und Zeit, über das „Zütphen-Oratorium“ zu reflektieren. Vergangenen Sonntag wurde es aus Anlass der Einführung der Reformation in Bremen uraufgeführt.

Der Mönch Heinrich aus dem niederländischen Zutphen hielt nämlich am 9. November 1522 die erste evangelische Predigt in Bremen. Seither ist die Stadt unangefochten protestantisch. Wenn das kein Oratorium wert ist? Die wenigen Ka­tho­li­k:in­nen an der Weser wurden in der Folge so erfolgreich marginalisiert, dass sie bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht als vollwertige Bre­me­r:in­nen galten. Unter keinen Umständen konnten sie zu Amt und Würden kommen.

Der Bremer Rat definierte sich schon bald als „reformiert“, folgte also der Theologie von Jean Calvin und Hyldrich Zwingli, in strenger Abgrenzung wiederum zu den Lutheranern. Die Religionspolitik der Stadtregierung war höchst vernagelt, im wörtlichen Sinn: Selbst die Türen des lutherischen Doms wurden gesperrt.

Der Dom stellte innerhalb der Innenstadt eine exterritoriale Enklave dar. Seine erzwungene Schließung dauerte Jahrzehnte. Schließlich stürzte der Südturm ein und hinterließ eine gewaltige Ruine vis-à-vis dem Rathaus. Erst angesichts dieses Anblicks siegte der bremische Pragmatismus über den religiösen Eifer, der Dom durfte instand gesetzt werden.

„Code civil“ sorgt für Gleichberechtigung

Bemerkenswert bleibt: Die dauerausgegrenzte jüdische Bevölkerung befand sich über lange Phasen der Bremischen Geschichte in „guter Gesellschaft“, sowohl der Katholiken als auch der „falschen“ Protestanten, der Lutheraner. Lediglich die französische Besetzung der Stadt 1806 brachte kurzfristige Gleichberechtigung. Nun galt der „Code civil“ als allgemeines bürgerliches Gesetzbuch. Allerdings nur kurz: Der Erfolg der gern gefeierten anti-napoleonischen „Befreiungskriege“ bedeutete für viele erneute Unfreiheit.

Zurück zu Heinrich von Zütphen: Als er 1522 nach Bremen kam, stieß er auf große Unzufriedenheit über die Privilegien und Geschäftspraktiken der Geistlichkeit. Nicht nur am Ablasshandel bereicherte sie sich: Besonderen Unmut erregte der Umstand, dass der Klerus – abgabenfrei – Bier aus Hamburg beziehen durfte. Heinrichs Predigten fanden so großen Zulauf, dass der Erzbischof ein Inquisitionsverfahren gegen ihn anstrengte. Wie klingt eine solche Geschichte in Musik gefasst?

Mit Keno Hankel wurde ein junger Komponist beauftragt – der gleichwohl eine konventionelle Klangsprache wählte. Bei den im oratorischen Ablauf regelmäßig vorgesehenen Gemeindechorälen mag das nicht überraschen. Die müssen immer irgendwie nach Bach klingen. Aber die Rezitative, die handlungstreibenden, erzählenden Einwürfe der Evangelistin?

Gewiss, dass mit Anja Petersen eine Frau diesen Part übernimmt, ist eine echte Umbesetzung im traditionellen Oratoriumsformat – das als solches gleichwohl traditionell bleibt. Dramaturgischer Höhepunkt des Werkes ist denn auch ein „Melodram“ genanntes Duell zwischen Gericht und Reformator, das den oratorischen Formenkanon verlässt: Erik Roß­bander als Erzbischof donnert und giftet Heinrich (Julian Redlin) die obrigkeitliche Anklage entgegen – der wiederum wehrt sich mit kurzen, eindringlichen Gesangssentenzen und verweist auf seinen Glauben als „einzigem Weg zum Heil“.

Nun muss nicht jede neue Komposition auch neutönen. Etwas unglücklich ist zudem, dass ausgerechnet beim kompositorisch ambitionierten Instrumental-Intro, der „Sinfonia“, die Barocktrompeten partiell patzen. Mit ihren divergierenden Stimmungen stehen sie für die religiösen Konkurrenzen – rhythmische Divergenzen waren hingegen nicht vorgesehen. Das eigentlich zu Bedauernde aber ist der evangelische Triumphalismus, den Hankel seinem Werk einkomponiert: Pauken und crescendierende Trompeten stilisieren Heinrichs Bekenntnisworte zu sieghaften Zeichen des Rechthabens.

Das irdische Ende des Heinrich ist dennoch ein Scheiterhaufen. Nicht in Bremen brennt er, sondern in Dithmarschen, wo Heinrich ebenfalls die Reformation einführen will. Martin Luther hat das in seiner „Historie von Bruder Heinrich von Zütphens Märtyrtode“, die auch auf Plattdeutsch erschien, detailreich beklagt. „Die blutigsten Stellen“ des Luther’schen Originals, sagt Hankel, habe er beim Verfassen des Librettos allerdings „noch ausgespart“.

Ausgespart bleibt auch der größere historische Zusammenhang: Dithmarschen war als Bauernrepublik umringt von feudalen Feinden. Eine Provokation des Erzbischofs durch Heinrichs Predigten stellte ein beträchtliches Risiko dar. Statt Heinrich außer Landes zu bringen, wurde er allerdings auf übelste Weise zu Tode gebracht. Luther war davon tief getroffen. Im Jahr darauf erschien seine berüchtigte Schrift „Wider die Mordischen und Reubischen Rotten der Bawren“: Sie fordert von den Fürsten, alle aufständischen Bauern zu „zerschmeißen“. Es solle sie „würgen, stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund erschlagen muss“.

Viele sehen darin Luthers Verrat am ersten Versuch einer Revolution in Deutschland. Weitere Gräueltaten der Bauernkriege spielten dabei eine Rolle – aber auch Heinrichs Schicksal, was im Rahmen des Oratorium-Projekts eine relevante historische Dimension gewesen wäre.

Ein solches Großwerk in Auftrag zu geben und zu realisieren, ist eine gewaltige Leistung. Die St.-Ansgarii-Gemeinde knüpft damit an ihre historische Pionier-Rolle an, sie war der Ort der ersten evangelischen Predigten in Bremen. Die Gemeinde hat einen bemerkenswerten Chor, den Kantor Kai Niko Henke, ebenso wie das Norddeutsche Barock-Collegium, mit souveräner Ruhe leitete.

Militanter Antisemitismus

Was aber kann man mit dem Reformationstag nun weiter anfangen? Nichts. Seine Einführung als staatlicher Feiertag war ein vierfacher Fehler: als religiöser, christlicher, konfessioneller und – viertens – Martin Luther ehrender Tag.

Eine Kette sich steigernder Abgrenzungsmerkmale. Luthers militanter Antisemitismus wurde bei der Entscheidungsfindung 2018 nicht ignoriert, aber bagatellisiert. Unvergessen, wie der damalige Bremer CDU-Fraktionsvorsitzende Thomas Röwekamp, heute Bundestagsabgeordneter seiner Partei, im Parlament behauptete: Am Reformationstag gehe es „nicht um einzelne Akteure wie Martin Luther“. Sprachs und baute vor sich das Reformator-Figürchen auf, das Playmobil gerade auf den Markt gebracht hatte.

Begründet wurde der Entschluss schließlich mit einer entsprechenden Regelung in Niedersachsen, von der man sich nicht „insulär“ abgrenzen solle. Die wiederum war gegen das ausdrückliche Votum der jüdischen Gemeinden getroffen worden.

Wie wäre ein staatlicher Feiertag so zu definieren und zu legen, dass er integrative Ausstrahlung entfaltet? Etwa auf den Internationalen Tag der Menschenrechte, den 10. ­Dezember. Stattdessen entschieden sich die norddeutschen Länder in einem munteren Domino-Effekt für den Reformationstag. Dabei spielte eine wesentliche Rolle, dass man sich gegenüber den vielen süddeutschen Extra-Feiertagen benachteiligt fühlt – völlig zu Recht! In dieser ­Logik läge es also durchaus, auch den 10. Dezember als staatlichen Feiertag zu verankern.

Er ist, als Tag seiner Ermordung, auch der kirchliche Gedenktag an Heinrich v. Zütphen. Wenn das, evangelisch formuliert, keine ­„Fügung“ ist! Jedenfalls ist es ein ­Kompromiss-Angebot.

Und der 31. Oktober? Den sollten wir getrost der neudeutschen Melange aus Halloween und Weltspartag überlassen. Ohne staatlichen Würdigungsanspruch.

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