piwik no script img

Zuckerwatte

■ Balance zwischen 80er-Retro und neuem Hipstertum: Ladytron im Schlachthof

Manche Geschichten hört man immer wieder gerne. Zum Beispiel die von Daniel Hunt. Als der Brite vor Jahren einen Freund in Tokio besuchte, sagte er nur einmal die Unwahrheit, Ja statt Nein. Fortan war er Vorsteher einer Band, die sich Ladytron nannte – und die es gar nicht gab. Als ihm prompt auch noch ein Plattenvertrag angeboten wurde, hatte Daniel ein Problem. Immer wenn er nach Ladytron gefragt wurde, musste er sich interessante Antworten ausdenken. Und aus der Band, die nicht existierte, entwickelte sich eine bekannte Band, die niemand kannte.

Zurück in Liverpool wusste Daniel, was zu tun war. Bei aller Unvorhersehbarkeit der Ereignisse gingen ihm längst verschiedene Ideen durch den Kopf. Nicht umsonst hatte er seine Band nach einem Song von Roxy Music benannt. Stilvoll sollte sie sein. Und anders als der ganze stadtbekannte Mist. Die richtige Besetzung für seine Vision fand sich mit Helena Marnie, dem japanischen Industriedesigner Reuben Wu und der bulgarischen Mikrobiologin Mira Aroyo. So wurde aus Fiktion Realität. Und wie.

Ladytron setzen dem Synthie-Pop ein modernes Denkmal, verstehen es, den damals futuristischen Sound in einer für heutige Elektronik-Hipster unwiderstehlichen Art und Weise aufzubereiten. Selbstverständlich kombinieren sie Human League mit Repetativ-Improvisatorischem à la Can und Spätsiebziger-Disco-Sounds mit der Energie von Atari Teenage Riot. Ohne dabei das Songwriting zu vergessen: Die Ingredienzien prallen aufeinander, um sich binnen Sekunden wieder sanft und einschmeichelnd in melodiöser Verzückung zu vereinen. Könnte Zuckerwatte Laute von sich geben, sie klängen so.

„Fragen nach Formen, Stimmungen, Attitüden und Stil sind kein luxuriöses Spiel mit Oberflächen. Sie sind Fragen nach Organisationsformen von Handlungen“, schreibt der Künstler Olaf Nikolai in einem Essay. Und könnte damit über Ladytron sinnieren. Denn da-rum geht es ihnen: Attitüden und Stile zu organisieren. Ihre Kunst besteht darin, elegant die Balance zu halten zwischen Plattitüde und Innovation, zwischen schlichtem Spaß am nostalgischen Klang und der Reflexion über den aktuellen 80er-Jahre-Retrotrend. Und sie kommen, wie gesagt, aus Liverpool, der Heimat der meisten britischen Nr.1-Hits, 53 an der Zahl. Es werden bestimmt bald noch ein paar folgen. Thorsten Bathe

Sonntag, 21 Uhr, Schlachthof

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen