: Zivilisierte BRD – krasse Selbsttäuschung
■ betr.: „Tausend Haßbriefe für Lü becks Bürgermeister“, taz vom 14. 2. 96, „Die Geister, die ich rief...“, taz vom 16. 2. 96, „,Darf man sich noch als Neger verkleiden‘“, taz vom 17./18. 2. 96
Die Berichte und insbesondere die Briefe mit ihren offenen und ehrlichen Vernichtungswünschen machen noch einmal nachdrücklich klar, daß das in grün-alternativen und Alt-68er Kreisen beliebte Geschwätz von der angeblich so gründlich „zivilisierten“ bundesrepublikanischen Gesellschaft im besten Fall nichts als krasse Selbsttäuschung, wahrscheinlicher hingegen eine notwendige und mehr oder weniger bewußte Lüge zwecks Rechtfertigung ihrer Anpassung an eben diese Gesellschaft darstellt.
Ebenfalls führen sie auch eindringlich vor Augen, daß die Legende vom „Bruch“ und „Neubeginn“ nach 1945 nie etwas anderes als ein staatstragender Mythos der BRD (und in etwas abgewandelter Form auch der DDR) gewesen ist. Der Nationalsozialismus ist lediglich militärisch niedergeschlagen worden. Die Kontinuität seiner Wurzeln jedoch auch nach Kriegsende wurde und wird in diesem Land seit eh und je geleugnet und verdrängt. Das betrifft sowohl sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens, als auch die sogenannte Privatsphäre in den Familien, in Beziehungen und Freundschaften. Teilweise zwar angeknackst und bis zur Unkenntlichkeit verformt, jedoch weiterhin in ihrem Kern unangetastet und unverarbeitet, existieren die destruktiven Muster des Faschismus auf allen Ebenen weiter. Und aus diesem Grund können viele der zur Zeit laufenden gesellschaftlichen Diskussionen, egal ob es nun zum Beispiel um Bundeswehreinsätze, die sogenannte Euthanasiedebatte oder den „Mißbrauch mit dem Mißbrauch“ geht, nur nach hinten losgehen.
Besonders die ehemals linken oder liberalen ProtagonistInnen dieser Debatten kapieren anscheinend nicht, daß die von ihnen teils stillschweigend, teils lautstark behauptete und vorausgesetzte Normalisierung der erbärmlichen deutschen Zustände niemals stattgefunden hat. Mit Ausnahme der Normalisierung, die wir momentan miterleben müssen: Stück für Stück gleichen sich Staat und Gesellschaft an die Normalität ihrer verschiedenen autoritären und diktatorischen Vorläufer in diesem Jahrhundert an. Alle Diskussionen, die wie bei den oben erwähnten Themen unter dem Deckmäntelchen „Tabubruch“ daherkommen, tragen unter diesen Bedingungen mit dazu bei, verschiedene Säulen des Faschismus wie militärisches Denken und Fühlen, selektives, rein leistungsorientiertes Denken sowie sexistisches Handeln gegen Frauen und Kinder (um bei den Beispielen zu bleiben) zu rekonstruieren, zu modernisieren und damit auch bei noch widerstrebenden Teilen der Gesellschaft wieder salonfähig zu machen.
Auch zum Thema Patriarchat machen die Berichte etwas deutlich: Faschismusanalysen ohne einen Begriff von patriarchaler Gewalt taugen nix! Die in einigen der Briefe durchschimmernden Vorstellungen von „Männlichkeit“, der widerwärtige Sexismus; aber auch der Sexualneid, der Neid auf das angeblich lockere Leben der Fremden, machen das noch mal klar, was der Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, schon 1937 während einer Rede verkündete: „Deutschland ist ein maskuliner Staat.“ – kalt, brutal, stumpf, ungerecht, öde und langweilig. Und ein deutscher Mann, der es wagt, wegen ein paar verbrannter „Nigger“, also wegen deutscher Frauen vergewaltigender (das sind UNSERE!) und Sozialhilfe kassierender Untermenschen vor laufender Kamera zu weinen, macht sich natürlich als deutscher Bürgermeister in einer deutschen Stadt untragbar, ist eigentlich kein Mann mehr, sondern ein hysterisches Weib. Da bleibt zum wiederholten Male nur noch zu sagen, daß es hier ohne eine radikale Demontage der klassischen „männlichen“ Tugenden, Werte und Vorbilder durch uns Männer selbst, mit Hilfe feministischer Theorie und Praxis, keine Entfaschisierung geben wird.
Zum Schluß möchte ich Michael Bouteiller noch viel Mut und Kraft wünschen, frage mich allerdings ernsthaft, wie lange er noch Mitglied der SPD bleiben wird. Hat sich doch diese Partei in ihrer ganzen Geschichte im Zweifelsfall immer als zuverlässig staatstragend erwiesen. Und mit humanistischen, sozialen und demokratischen Idealen sind in diesen realpolitischen Zeiten nicht eben viele WählerInnenstimmen zu gewinnen. Stefan Hirschfeld
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