: „Zivilcourage“
■ Gericht reduziert Strafe für Blockade am Flughafen Tegel gegen Abschiebung auf eine Verwarnung
Die ehemalige Abgeordnete der Alternativen Liste Rita Kantemir und der Kreuzberger Pfarrer Jürgen Quandt wurden gestern vor dem Berliner Landgericht in derselben Sache zum dritten Mal einer Nötigung schuldig gesprochen, jedoch erstmals lediglich verwarnt. Sie hatten im Juni 1985 aus „Gewissensgründen“ vor dem Flughafen Tegel einen Bus mit ihrer Vermutung nach nicht ausreisewilligen Asylbewerbern aus dem Libanon an der Weiterfahrt gehindert. Erst nachdem die Demonstranten durchgesetzt hatten, mit den Flüchtlingen sprechen zu dürfen, gaben sie den Weg frei.
Als „Wild-West-Manier“ und „Wegelagerei“ hatte der damalige Innensenator Heinrich Lummer die Blockadeaktion bezeichnet, der Vorsitzende Richter des Berliner Landgerichts bescheinigte den beiden Angeklagten gestern dagegen „Zivilcourage“ - eine Interpretation, zu der sich die Kollegen von den vorhergehenden Instanzen nicht durchringen konnten.
Es sei hier nicht um „Randale“ gegangen, sondern um das Ziel, Menschenleben zu erhalten, erklärte der Richter in seiner Begründung und übte deutliche Kritik an der damaligen Abschiebepraxis. Aufgrund der Entwicklung im Libanon sei die Frage zu stellen, wieviele Menschen dort im Bürgerkrieg umgekommen seien, die aus Berlin abgeschoben wurden. Daß ein derartiges Verfahren über vier Jahre hinweg habe geführt werden müssen, spreche gegen diesen Rechtsstaat. Der Staatsanwalt hatte Geldstrafen bis zu 6.000 Mark beantragt. Das Gericht widersprach der Auffassung des Anklagevertreters, es hätte „100 Wege gegeben“, das Ziel zu erreichen. Hier habe vielmehr - erläuterte der Kammervorsitzende - anders als bei Straßenblockaden gegen Abrüstung oder Atomkraftwerke nur sofort oder gar nicht gehandelt werden können. Das Gericht sprach lediglich eine Verwarnung aus, zumal die Angeklagten in ihrem Verhalten das vorweggenommen hätten, was in den politischen Gremien mit dem Stopp der Abschiebungen danach beschlossen worden sei. Rita Kantemir und der Kreuzberger Pfarrer waren in erster Instanz von einem Schöffengericht zu Geldstrafen von 600 beziehungsweise 2.000 Mark verurteilt worden. In der Berufung vor dem Landgericht lautete das Urteil auf 2.700 beziehungsweise 9.000 Mark.
Nachdem das Kammergericht in der Revision den Schuldspruch bestätigte, ging es im dritten Anlauf lediglich um das Strafmaß. Die Frage, ob Nötigungen bei derartigen Blockaden verwerflich seien, war hier nicht zu erörtern. Der Richter fügte jedoch hinzu, daß mit dieser Entscheidung nicht jede Blockade befürwortet werde.
dpa
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