: Zimmer ohne Aussicht
Kein Beitrag zur Gewaltdebatte, eher ein Aufzeichnungsapparat: Michael Hanekes „Bennys Video“ ■ Von Christiane Peitz
Der Mann drückt den Kolben auf den Kopf des Schweins. Das Schlachtschußgerät macht ein dumpfes Geräusch, die Ohren des Tiers fliegen hoch, es zuckt, fällt um. Ein totes Schwein mit einem kleinen Loch im Kopf. Das Band läuft zurück. Das Schwein steht auf, die Ohren hoch, der Kolben zurück und gleich wieder vor, jetzt in Zeitlupe. Das mit den Ohren sieht lustig aus beim drittenmal. Ein fröhliches Schwein wie aus einem Cartoon.
Benny guckt Videos. Das vom Schweineschlachten hat er auf dem Bauernhof aufgenommen, auf dem seine Eltern das Wochenende verbringen. Benny ist zu Hause geblieben, hat was von Mathe-Üben gemurmelt. Der Vater hatte am Abend noch ins Zimmer geschaut und gesagt: „Lüften wäre von Vorteil.“ Benny (Arno Frisch) öffnet seine Fenster nicht. Die Jalousien bleiben heruntergezogen. Wenn Benny will, kann er sich die Aussicht auf dem Monitor einspielen. Eine Videokamera hält sie fest, in Echtzeit. Benny geht zum Kühlschrank, trinkt ein Glas Milch. Das Essen steht in der Mikrowelle. Er macht Schularbeiten. Bennys Zuhause: eine kalte Welt in blauem Licht, High Tech, Bildschirme, Stereoanlage, Stahlrohrmöbel. Modern, praktisch, steril. Es gibt kein Grün. Benny geht weg, kommt zurück, fährt mit dem Fahrstuhl in die Neubauwohnung. Die Fahrstuhltür öffnet und schließt sich schnell, der Hausflur wirkt wie weggeschnitten. Benny guckt Fernsehen.
Im Videoladen im Einkaufszentrum trifft er ein Mädchen, die lädt er ein auf sein Zimmer. Sie sagen 'Weiß nicht', 'Halt so', lauter Sätze mit zwei Worten. Sie teilen sich das Essen aus der Mikrowelle. Benny zeigt ihr das Schlachtschußgerät, er hat es mitgenommen vom Bauernhof. Er fragt, ob sie schon einen Toten gesehen hat. Bei Opas Tod, sagt er, hab ich die Augen zugemacht. Dann probiert er das mit dem Kolben, in echt. Er drückt ab, das Mädchen schreit, er schießt wieder, sie wimmert noch, irgendwann ist sie ruhig. Bennys Video hält fest, was im Zimmer geschieht. Zum Beispiel, daß er sich auszieht, daß er das Blut wegwischt, daß das Blut immer neu nachquillt. Das Blut ist das einzige, was nicht künstlich aussieht. Die Milch wirkte dagegen wie reine Chemie.
Benny geht in die Disco, auf die Schlittschuhbahn, zu seiner Halbschwester, zum Friseur. Er schneidet sich die Haare ganz kurz, wie ein Skin oder ein KZ-Häftling. Er sagt keinem was. Den anderen schaut er bloß zu. Immer trennt ihn etwas von der Welt: ein Zaun, eine Glasscheibe, ein Gitter, die Fahrstuhltür, der Korridor, die Rolltreppe. Der Schulchor probt Bachmotetten. Jesu, meine Freude. Benny bewegt brav den Mund. Er schlägt seinen Banknachbarn. Er soll zum Direktor. Er geht nicht hin.
Die Eltern finden das Mädchen im Kleiderschrank. Sie fragen Benny, ob er wirklich keinem was erzählt hat. Sie reden über die Vernachlässigung ihrer Aufsichtspflicht. Sie planen die Beseitigung der Leiche. Es darf keine Spuren geben. Einmal lacht die Mutter (Angela Winkler) hysterisch auf. Einmal sagt der Vater (Ulrich Mühe) zu Benny: Ich liebe dich. Die Mutter fährt mit dem Sohn nach Ägypten, damit der Vater das Mädchen verschwinden lassen kann. Benny filmt Ägypten mit der Videokamera. Die Mutter auch. Touristenbilder.
Kein beredter Gesichtsausdruck, keine bedeutsame Begegnung, kein aufschlußreicher Dialog. Kein Entsetzen, keine Erklärung. Warum hat Benny abgedrückt? Warum zieht er sich aus? Warum spricht er nicht? Warum der Haarschnitt? Jede Frage nach Bennys Motiv, nach sozialen Ursachen oder psychologischen Beweggründen prallt an Bennys Gestalt ab wie an der glatten Oberfläche der Designermöbel. Ein Bauer tötet ein Schwein, ein Junge tötet ein Mädchen. Es geschieht einfach. Michael Hanekes Film verweigert die Mitteilung. Kein Beitrag zur Gewaltdebatte, eher ein Aufzeichnungsapparat: er protokolliert präzis, vollständig, gleichgültig. Über Benny weiß er soviel wie Benny über sich selbst. Eigentlich nichts. Zu behaupten, der Junge sei unglücklich, wäre eine Überinterpretation.
Der Schreck kommt viel später. Man beruhigt sich mit Deutungsversuchen. Die Eltern sind schuld und ihre Gefühllosigkeit: Der Junge wollte eine Spur hinterlassen, damit man auf ihn reagiert. Die Videos sind schuld: Vor lauter Ersatzwelt hat Benny den Kontakt zur Wirklichkeit verloren. Auch das Mädchen hält er für eine virtuelle Realität. Die Gesellschaft ist schuld: die Stadt, der Neubau, die Schule – eine genormte Welt. Mag sein, daß Haneke genau das meint: den Horror einer Welt, in der Menschen funktionieren wie makellose Maschinen. Gewalt als einziges Mittel der Kommunikation. Bennys Tat: ein Schrei um Liebe. Aber „Bennys Video“ legt keine Meinung nahe. Der Film kennt keine Opfer und Täter, keinen Kausalzusammenhang, er argumentiert nicht, klagt nicht an, fordert nichts ein. Am Ende provoziert er beim Betrachter dieselbe Gleichgültigkeit, von der er erzählt. Das ist der eigentliche Schock.
Mutter und Sohn auf dem Hotelbett. Nebeneinander. Sie schlafen nicht, sie reden nicht, ihre Körper liegen reglos, flach, wie zweidimensional. Man könnte sie töten.
Michael Haneke: „Bennys Video“, Österreich/Schweiz 1991/92. Mit Arno Frisch, Angela Winkler, Ulrich Mühe u.a., 105 Min.
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