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„Zensur mit der Gewehrkugel“

Die türkische Regierung will die prokurdische Tageszeitung „Özgür Gündem“ verbieten / Mit scharfer Repression geht der Staat gegen oppositionelle Medien vor / Derzeit 54 Journalisten in Haft  ■ Aus Istanbul Marco Carini

Als sei nichts geschehen, gehen die Blattmacher im Istanbuler Großraumbüro der Tageszeitung Özgür Gündem ihrem hektischen Tageswerk nach. Telefone läuten Sturm, Schreibmaschinentasten klacken, an den Layout-Computern werden Seiten umbrochen. Ein moderner Zeitungsbetrieb, wie er überall in Europa stehen könnte, wären da nicht die stählernen Eingangstüren, die – elektronisch gesichert und videoüberwacht – seit Anfang des Jahres das Redaktionsgebäude in eine Festung verwandeln. „Wir haben lernen müssen, daß wir solche Sperren brauchen“, sagt Osman Köker, Chef der Nachrichtenredaktion.

Es war am Abend des 10. Dezember – dem Menschenrechtstag der UNO. Vierzig Beamte der Antiterroreinheiten der türkischen Polizei stürmten, Maschinengewehre im Anschlag, die Redaktionsräume an der Istanbuler Kardiga Limani. Als sie das Gebäude wieder verließen, pferchten sie alle 106 anwesenden Mitarbeiter der Zeitung in zwei Polizeibusse, beschlagnahmten das gesamte Archiv der Zeitung und tags darauf sämtliche Geschäftsunterlagen.

Unangekündigten Besuch der türkischen „Sicherheitskräfte“ erhielten in jenen Tagen auch die zwölf über die ganze Türkei verstreuten Korrespondentenbüros der prokurdischen Zeitung. Redaktionsräume wurden verwüstet, mehr als 100 Gündem-Mitarbeiter vorläufig festgenommen. Am 12. Januar schlug die Staatsgewalt dann erneut zu: Fünf Vertreter der Zeitung wurden in Diyarbakir verhaftet, ein weiterer in Istanbul.

Die Massenverhaftung war die bisher spektakulärste Polizeiaktion gegen Özgür Gündem, die erste war sie beileibe nicht. Mehr als sechzig Korrespondenten und Vertriebsmitarbeiter wanderten in den vergangenen zwei Jahren bereits hinter Gitter. Seit das prokurdische Blatt im Mai 1992 erstmals erschien, ließen die türkischen Zensoren über 270 Ausgaben beschlagnahmen und leiteten ebenso viele Strafverfahren gegen die Chefredakteure und den Herausgeber ein. Die von den Staatsanwälten geforderten Strafen summieren sich dabei auf 650 Jahre Haft und Geldbußen in Milliardenhöhe.

Vierzehn Gündem-Mitarbeiter fielen in den vergangenen zwei Jahren Mordanschlägen zum Opfer. Kein einziger Mörder wurde je ermittelt. „Morde unbekannter Täter“, nennen die Polizeiakten die Exekutionen. „Zensur mit der Gewehrkugel“, sagen dazu die Redakteure von Gündem. Sie haben keinen Zweifel, wer für die Morde verantwortlich zeichnet: im Untergrund tätige Mitarbeiter der staatlichen „Sicherheitskräfte“.

Die Schweizer Journalistenorganisation „Reporter ohne Grenzen“ untersuchte im vergangenen Jahr in der Türkei die Todesumstände von dreizehn Journalisten, die hier 1992 gewaltsam ums Leben kamen. In ihrem Abschlußbericht kam sie zu der Einschätzung, mindestens in vier Fällen habe es „die Billigung, wenn nicht gar die aktive Teilnahme der Sicherheitskräfte“ gegeben. Inzwischen hat sich die Zahl der in der Türkei getöteten Journalisten auf neunzehn erhöht. Das Internationale Presseinstitut (IPI) stuft die Türkei deshalb als das weltweit „gefährlichste Land für Journalisten“ ein.

Die Gündem zur Last gelegten „Verbrechen“ bestehen darin, daß die Zeitung nicht nur – wie in der türkischen Presse sonst üblich – die regierungsamtlichen Verlautbarungen abdruckt, sondern auch Stellungnahmen der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK). Daß sie über militärische Auseinandersetzungen zwischen den Polizeikräften und der militanten Kurdenorganisation recherchiert und dabei nicht selten ein anderes Bild zeichnet als die offizielle Staatspropaganda. Als einzige türkische Zeitung berichtet Gündem, wenn die türkische Armee kurdische Dörfer bombardiert und kurdische Bauern durch das Militär zwangsumgesiedelt werden. „Wir werden nur deshalb verfolgt, weil wir unterdrückte Nachrichten drucken“, sagt Osman Köker. Mit den Massenfestnahmen, so glaubt der Redakteur, wolle der türkische Staat „uns den endgültigen Schlag versetzen“. In tagelangen Verhören wurden gegen die Verhafteten immer und immer wieder die gleichen Anschuldigungen erhoben. „Wir sollten zugeben, Mitglieder der PKK zu sein“, erinnert sich der stellvertretende Chefredakteur Ferda Çetin, der zwei Wochen im Istanbuler „Antiterror-Hauptquartier“ Gayrettepe festgehalten wurde.

Als Çetin nicht aussagen wollte, was er aussagen sollte, halfen die Polizisten nach. „Ich wurde erst an beiden Armen aufgehängt, dann wurden mir Stromkabel am Fußgelenk und am Penis befestigt“, berichtet der 33jährige. Als die Elektroschocks durch seinen Körper gejagt wurden, bemerkte einer der Folterknechte: „Auch wir sind für Demokratie und Menschenrechte, nur ihr hindert uns an deren Verwirklichung.“

Die Massenverhaftung der Gündem-Mitarbeiter war nicht der einzige spektakuläre Anschlag auf die Pressefreiheit in den vergangenen Wochen. Am Abend des 28. Dezember nahm die Istanbuler Polizei Ibrahim Özen, den Herausgeber des sozialistischen Magazins Cözüm, in seiner Wohnung fest. Bereits an den beiden vorausgegangenen Tagen hatten die Staatsdiener in Uniform zwölf weitere Mitarbeiter und Sympathisanten der Zeitschrift festgenommen, meist auf offener Straße. Zehn von ihnen sind heute noch immer in dem Istanbuler Staatskerker „Gebze“ inhaftiert, darunter die in Frankfurt lebende Leyla Akbaba. Die Sicherheitsbehörden bezichtigen die Verhafteten, der verbotenen marxistisch-leninistischen Kampforganisation „Dev-Sol“ anzugehören und an der Vorbereitung mehrerer Bombenanschläge beteiligt gewesen zu sein. Die staatstreue Boulevardpresse machte sich die Vorverurteilung brav zu eigen und verkündete die Verhaftung mit Schlagzeilen wie „Militante Bombenleger dingfest gemacht“.

Als sie die Redaktionsräume von Cözüm durchsuchten, gingen die Antiterroreinheiten [Staatsterroreinheiten wäre wohl treffender. d.sin] mit der ihnen eigenen Gründlichkeit vor. „Alle Geschäftsunterlagen waren unter Wasser gesetzt worden, der Fernschreiber und sämtliche Schreibmaschinen demoliert“, beschreibt Hatice Onazan, die Chefredakteurin des Linksaußen-Blattes, den Zustand der Büroräume am Tag nach dem Polizeieinsatz. „Selbst die Kugelschreiber waren sorgfältig in der Mitte durchgebrochen worden.“

Doch die staatliche Willkür bedroht nicht nur die oppositionellen Zeitungen der Türkei. Selbst die großen regierungskonformen Tageszeitungen wie Milliyet und Hürriyet bleiben von Beschlagnahmungen und saftigen Geldstrafen mitunter nicht verschont. Kritische Mitarbeiter, die in ihren Texten die Kurdenfrage auch nur problematisierten, wurden Opfer von Verhaftungen und Ermordungen. Bereits in den achtziger Jahren wurden nach Angaben von amnesty international über dreitausend türkische Journalisten vor Gericht gestellt und zumeist schuldig gesprochen. Zur Zeit sind 54 türkische Journalisten namentlich bekannt, die in den Staatsgefängnissen eingekerkert sind.

Neben Karl Mays „Durchs wilde Kurdistan“ wurden auch Magazine wie Geo und Merian aus dem Verkehr gezogen; weil sie über die kurdische Minderheit berichteten, deren Existenz die Regierung totzuschweigen versucht. Als ein US-amerikanischer Kongreßabgeordneter sich aufgrund solcher Praktiken an den Umgang der Nazis mit dem geschriebenen Wort erinnert fühlte, konterte das türkische Justizministerium prompt: „Von Bücherverbrennungen“ könne keine Rede sein, das „Material“ werde lediglich den Papierfabriken zugeleitet: zum Recycling.

Doch das staatliche Papiermonopol spielt nicht nur eine zentrale Rolle bei der Vernichtung unliebsamen Schriftgutes. Es ist auch vorbeugend gegen eine allzu unkontrollierte Flut von Presseerzeugnissen tätig, indem es seine Preise zehnmal schneller hochtreibt als die Inflation. Betroffen sind davon besonders die kleinen, oppositionellen Blätter. Die Geschäfte der großen regierungsnahen Zeitungsverlage hingegen laufen wie geschmiert. Erst vor kurzem mußte die türkische Regierung zugeben, daß sie die drei Massenblätter Sabah, Hürriyet und Milliyet mit erheblichen finanziellen Zuwendungen unterstützt hat.

Gündem-Herausgeber Yasar Kaya kann hingegen mit staatlichen Finanzspritzen kaum rechnen. Im Gegenteil: Jede konfiszierte Ausgabe kostet den untersetzten, stets in Maßanzüge gewandeten Verleger mehr als 4.000 Mark. Und jede Beschlagnahmung der Zeitung führt automatisch zu einem Verfahren vor dem Staatssicherheitsgericht. Über 180 Prozesse laufen zur Zeit gegen Gündem. Jeder verlorene Prozeß hat zur Folge, daß der Verlag 90 Prozent der Einkünfte einer verkauften Auflage als Strafe zahlen muß.

Yasar Kaya, Ehrenvorsitzender der kurdischen „Demokratischen Partei“ (DEP), ist eine der bedeutendsten kurdischen Persönlichkeiten des Landes. Viele Jahre als Manager und Unternehmer tätig, publizierte er 1963 – als erster in der Geschichte der türkischen Republik – eine türkisch-kurdische Zeitschrift: Deng (Die Stimme). „Wir sind nicht das Sprachrohr der PKK“, wird Kaya nicht müde zu betonen, „aber mit Gündem ist die Kultur Mesopotamiens öffentlich geworden. Zu ihr gehören Yeziden und Assyrer, die Küche der Kurden und ihre Architektur.“

Wenn einmal eine Nummer von Gündem nicht konfisziert wird, pflegt Kaya eine Flasche Champagner zu öffnen. Angst um die Leber des kleinen Mannes muß man deshalb nicht bekommen: Von den ersten dreißig nach der Massenverhaftung erschienenen Ausgaben wurde nur eine einzige nicht beschlagnahmt.

Die Auslieferung in den Metropolen Istanbul und Ankara läßt sich damit in aller Regel nicht verhindern. Ziel der staatlichen Zensoren ist es deshalb, den Vertrieb in den kurdisch dominierten Landesteilen lahmzulegen. Mindestens zwei Vertriebsfahrzeuge sowie 15 Kioske, die Gündem in den kurdisch dominierten Gebieten verkauften, fielen bislang Brandanschlägen zum Opfer. Besitzer der Buchläden und Gündem-Zeitungsausträger wurden verprügelt oder sogar ermordet. Stets waren „unbekannte Täter“ am Werk.

In den nächsten Wochen wird vor dem Istanbuler Staatssicherheitsgericht über das endgültige Verbot von Gündem entschieden werden. Doch Yasar Kaya will sich auch dadurch nicht zum Schweigen bringen lassen: „Wenn wir verboten werden“, sagt er, „wird es am nächsten Tag eine neue Zeitung mit einem neuen Namen geben.“

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