■ KURZMELDER: Zensur im Westen
Am Samstag feierte der zum Freitag verschobene Sonntag seine letzte Woche vollzogene Vereinigung mit der Volkszeitung, was eine nette Party in der ElefantenPress-Galerie war. Die ehemalige Sonntags-Redaktion ist aus der Niederwallstraße (O) in die O-Straße (W) gezogen, und auch inhaltlich wird man rasch lernen müssen, wie der Westen geht.
Einen Lehrbrief hat jetzt der Bonner Zentralausschuß der Werbewirtschaft e.V. via Hamburg den Ex- Ostberlinern gewidmet. Der Sonntag hatte nämlich am 9. November das Zeitmagazin gestaltet und dort einen letzten schlimmen Ostlerfehler begehen dürfen. Diesen berichtigt die Werbewirtschaft in einem Brief an die »Sehr geehrte Frau Chefredakteurin« des Zeitmagazins und teilt ihre »Empörung öffentlich mit«. Schon jetzt sei Deutschlands Werbewirtschaft allerhand gewöhnt. In den Medien würde ihr untergeschoben, daß »Werbung Autos zu Mordwaffen« macht, daß Vergewaltigungen, Kindesmißhandlungen, Alkoholmißbrauch, Tabakkonsum und Ladendiebstähle ursächlich auch auf Werbung zurückzuführen seien.
Und jetzt: »Im Zeitmagazin Nr. 46 vom 9. November 1990 ist auf Seite 14 das Bild von Plakatwänden mit Produktwerbung zu sehen. Die Textzeile dazu: Die Werbung überzieht das Land flächendeckend, wie früher die Stasi.«
Hier würde dem Leser naheglegt, daß der eine Terror den anderen ersetze, schließlich gehöre das Bild mit dieser Unterzeile zu einem redaktionellen Beitrag, in dem Marktwirtschaft als Verursacher von Kriminalität gebrandmarkt würde. Dabei vermißt die Werbewirtschaft den Hinweis auf den »inneren Zusammenhang«, und der ginge so: »Ohne Demokratie keine Marktwirtschaft, ohne Marktwirtschaft kein Wettbewerb, ohne Wettbewerb keine Werbung.« Ohne Werbung gar keine Demokratie?
Und dann wird der Ton schärfer: Das sei »kalkulierte Diskriminierung«, wettert die arme, schwache, unterdrückte und an den Rand gedrängte Werbung. Schließlich und endlich die Drohung der Entrechteten: »Sie können sich der flächendeckenden Werbung im Zeitmagazin übrigens bestens entziehen, indem sie die Aufnahme von Werbung verweigern. Dann allerdings gäbe es das 'Zeitmagazin‘ nicht mehr — und die sie mittragende 'Zeit‘ auch nicht.«
Doch die Diskriminierten geben eine letzte Chance zur Wiedergutmachung mittels Jubelbericht: »Vielleicht ist dieser Vorfall aber auch geeignet, sich mit dem Thema ,Werbung und Gesellschaft‘ in ihrem Blatt einmal sachgerecht auseinanderzusetzen [...]« Zumindest ist er wohl geeignet, den Ostlern vom Sonntag klarzumachen, daß Zensur nicht immer von der Stasi kommen muß.
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