: Zensur aus Unverständnis
■ "Revolutionsromantik oder Neuformierung" (Ein Jahr Bürgerbewegung Demokratie Jetzt), taz vom 10.9.90
betr.: „Revolutionsromantik oder Neuformierung“ (Ein Jahr Bürgerbewegung Demokratie Jetzt), taz vom 10.9.90
Legitim sind Kürzungen zweifellos, zumal wenn dies auch noch ausdrücklich vermerkt wird, wie zu meinem Beitrag. Die Redaktion jedoch blendet eine Grundaussage aus. Zensur aus Unverständnis liegt vor. Folgende Passage ist im Stück und eben nicht nur teilweise gestrichen:
„Für viele der Initiatoren verband sich seinerzeit kritisches Christentum mit Bürgerwiderstand gegen die SED, Nachfolge Jesu mit radikaler Demokratisierung und Transparenz in der sekularisierten Industriegesellschaft.
Die Kirche, gespalten in verschiedene Konfessionen, ist der größte bürokratiegefährdete öffentliche Arbeitgeber neben dem Staat. Aus der politischen Sphäre heraus gibt es kaum kritische Infragestellung und Durchleuchtung ihrer Arbeit. Niemand bestreitet heute, daß die Kirchen einem Auftrag gegenüber der Gesellschaft (unter den Stichworten: Gerechtigkeit, Frieden, Schöpfungsbewahrung) nachkommen müßten. Wer fordert die Bearbeitung dieses Auftrages ein? Der Blickwinkel sollte aber auch noch für eine ganz andere Richtung geöffnet werden: Braucht es nicht eine gesellschaftliche Opposition, die die wirkliche Trennung von Kirche und Staat herbeiführt, die das Steuer-Christentum aufs Korn nimmt, die nach eindeutigen gesellschaftlichen Positionen der Kirche fragt? Die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt könnte solche Befragungen glaubwürdig und unausweichlich führen.“
Das Unverständnis läßt auf eine geistige Kluft im alternativen Spektrum schließen; die Ost-West-Teilung geht also auch durch unsere Köpfe. Es fällt offensichtlich im Westen schwer zu verstehen, daß es auch im Osten so etwas wie eine christliche Sozialisation des kritisch-oppositionellen Bewußtseins gegeben hat. [...] Daran auch im grün-bürgerbewegt-alternativen Spektrum festzuhalten, mag nicht zeitgemäß, vereinigungsgemäß erscheinen. Aber so sind wir mal, wir Ostler: Der Atem geht uns nicht so schnell aus. Wir bringen wirklich etwas mit nach Westen, zum Beispiel, daß der zum Desinteresse gewordene antikirchliche Geist seine Dämmerstunde hinter sich bringen sollte. Eine demokratische Opposition, die die Gesellschaftlichkeit der unveröffentlichten wie der öffentlichen Angelegenheiten zu fördern beabsichtigt, wird den Anspruch der christlichen Gerechtigkeitslehre eher aufnehmen als ablehnen, zumindest aber diesen beständig denen vorhalten, die sich in großer Zahl ängstlich hinter dicken Kirchenmauern verschanzen. Und deshalb sei gerade der taz zu wünschen, daß sie eine kritische Berichterstattung über die Arbeit von Christen in Kirche und Politik profiliert! Stephan Bickhardt
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