piwik no script img

Zeitreise in St. Pauli

■ Straßenspektakel der GWA St. Pauli Süd gegen Mythen: „Pauli-Passion“

„Heute am 14. April 1944 können wir verkünden, dass die Schmuckstraße von der gelben Gefahr befreit ist“, deklamiert ein Uniformierter im Rollstuhl. Und wenig später: „Ganz St. Pauli ist nun juden- und chinesenfrei!“ Um ihn herum stellen sich in weitem Kreis auf dem Hein-Köllisch-Platz fünf Gestalten mit riesigen gelben Pappmaschee-Köpfen auf. Hinter dem Redner erinnert eine Flagge mit Hakenkreuz-Rudiment an die Nazis. Wenig später scheppert aus einer anderen Ecke die „Internationale“. Dazwischen toben wohl 50 Kinder unterschiedlichster Herkunft: Sie schauen zu, ebenso wie Café-Besucher nebenan und Mütter auf der Seitenbank. Es ist Probe für das Theaterspektakel Pauli-Passion, das hier und in der benachbarten St.-Pauli-Kirche heute Premiere hat.

Kurz zuvor gab es schon ein Ballett aus überdimensionalen Kackehaufen. Wenig später wird ein Trupp Amazonen einen windigen Geschäftemacher und seine Gattin hopp nehmen, denn die wollten den Kiez digitalisieren und die Kopie als besseres Original verkaufen. Und genau da schimmert einer der Beweggründe für dies ungewöhnliche Projekt durch. Das am Platz ansässige „Kölibri“, Zentrum für stadtteilbezogene Kultur- und Sozialarbeit der GWA St.-Pauli-Süd, wollte dem täglich weiter beschriebenen und verfilmten, einseitigen St.-Pauli-Mythos etwas entgegensetzen.

Autorin und Regisseurin Chris-tiane Richers koordiniert dafür rund 30 Akteure und gut nochmal soviel Personen hinter den Kulissen. Sie schöpfte Spielmaterial aus Gesprächen, aus Aktenbergen und Büchern. Ein fast zweistündiger beeindruckender Bilder- und Figurenreigen ist entstanden, ein Mix aus Historie und Gegenwart, Witz und Schwermut sowie großen und kleinen Namen. Es gibt viel zu entde-cken: St.-Pauli-Fans sollten diese Zeitreise auf keinen Fall verpassen.

Oliver Törner

weitere Aufführungen: Sonntag, 9., 10., 16. + 17. Juni, je 19.30 Uhr, Infos und Karten: 319 36 23

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen