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ZeitgeschehenNachricht an Emma Kunow

Ansichtskarten haben das Image gutgelaunter Urlaubsgrüße. Aber siekönnenauchstilleZeuginnen ihrer Zeit sein. Und zuweilen führen sie zurück in die Finsternis deutscher Geschichte.

Eine Postkarte von 1918, gefunden auf einem kleinen Flohmarkt im polnischen Kolberg. Foto: Verena Großkreutz

Von Verena Großkreutz

Im Frühstücksraum eines Hotels in Kołobrzeg: Eine ältere Dame fragt mich erstaunt, „Was? Sie schreiben noch Postkarten?“ Getriggert vom Gefühl, dass ich von Menschen als old school abgestempelt werde, die älter sind als ich, antworte ich leicht aggressiv: „Wenn ich selbst welche bekommen will, muss ich schon was dafür tun.“

Postkarten aus dem Urlaub zu schreiben ist out, obwohl eine Forsa-Umfrage im Auftrag der Deutschen Post kürzlich ergab, dass sich 65 Prozent der Befragten über Urlaubsgrüße per Postkarte freuen. Sie seien persönlicher als digitale Grüße. Erst auf Platz zwei folgten Grüße über Messengerdienste (61 Prozent), danach Anrufe, soziale Netzwerke und E-Mails. Aber Postkartenschreiben ist halt auch Arbeit. Und es wird selbst in Touristenhochburgen immer schwieriger, noch Kartenständer, Briefmarken und Postkästen zu finden. Erfolglos wird die Suche bald in Dänemark enden: Die Post dort stellt zum Jahresende die Briefzustellung in Dänemark ein. Die Zahl versendeter Briefe sei seit 2000 um 90 Prozent gesunken, heißt es.

Im Gegensatz zum persönlichen Brief, dem Internet und Mobilfunk schon seit Längerem den Garaus gemacht haben, hat sich die Postkarte aber bisher wacker gehalten. 2024 beförderte die Deutsche Post davon rund 96 Millionen – Tendenz allerdings sinkend. 2017 waren es noch 195 Millionen. Wann der Urlaubsgruß per Post gänzlich verschwindet, ist in unserer digitalen Welt nur eine Frage der Zeit.

Dabei sind Postkarten mehr als nur freundliche Grüße aus der Ferne. Sie können zu historischen Dokumenten mutieren. Sie verschwinden nicht, wenn das Smartphone oder die Festplatte den Geist aufgeben oder Clouds gelöscht werden. Sie bleiben stille Zeuginnen ihrer Zeit. So wie eine Karte aus dem Jahr 1918, die ich auf einem Flohmarkt in Kołobrzeg fand.

In Kołobrzeg (ehemals Kolberg) beendeten meine Freundin Claudia und ich nämlich im Sommer 2023 unsere Polenreise – eine Rundreise durch die Woiwodschaft Pommern, einst preußische, bis 1945 deutsche Provinz. Wir erkundeten den Landstrich, in dem Eltern von uns geboren wurden: ihre Mutter in Schneidemühl (heute Piła), mein Vater in Altschlage (heute Sława). Das Dorf, in dem mein Vater seine ersten Jahre verbrachte – 1945 floh die Familie vor den sowjetischen Truppen in Richtung Ruhrgebiet –, ist winzig geblieben: ein paar Häuser, umgeben von Feldern, Baumalleen und Stille. Auch wenn gerade zwei Jugendliche mit einem riesigen, donnernden Ghettoblaster die verkehrsfreie Kreuzung queren, ein paar Minuten an der vereinsamten Bushaltestelle herumlungern und dann wieder verschwinden. Sonst kein Mensch zu sehen. Das Gut, von dem mein Vater öfters gesprochen hat, steht offenbar nicht mehr. Wir fahren weiter.

Zuvor hatten wir Station in Słupsk (ehemals Stolp) gemacht. Laut Reiseführer wurde hier nämlich der Erfinder der Postkarte geboren: der Postler Heinrich von Stephan, ab 1871 Generalpostdirektor des Deutschen Reichs. Im Gegensatz zum Brief ist die Postkarte eine recht junge Erfindung. Heinrich von Stephan soll 1865 die Idee zu einer privaten Karte mit offen lesbarer Mitteilung gehabt haben, die sich unter preußischer Obrigkeit allerdings nicht durchsetzen konnte. Man hatte sittliche Bedenken gegen unverhüllte Texte und befürchtete Einnahmeeinbußen wegen des geringeren Portos. Die österreichische Post griff die Idee auf und führte 1869 eine „Correspondenzkarte“ ein, die schon bald zum Verkaufsschlager wurde. Der Siegeszug der Postkarte in die ganze Welt begann. Wir suchen am Słupsker Postamt erfolglos die Gedenktafel für den Erfinder, die der Reiseführer erwähnt. In der Touristeninformation erklärt uns ein junger Mann, dass Heinrich von Stephans Urheberschaft umstritten sei, weswegen die Gedenktafel wieder entfernt werden musste. Es war wohl eine Idee, die in der Luft lag und sich Stück für Stück realisierte, denn sie kam in einer Zeit auf, als Menschen erstmals begannen, aus reinen Erholungszwecken zu verreisen.

„Nur Kummer und Verdruß“

Unsere Rundreise führt uns auch in das ehemalige Kolberg. Bereits 1880 eines der größten deutschen Ostseebäder, wurde es im Zweiten Weltkrieg zerstört und dem Staat Polen als riesiger Trümmerberg hinterlassen. Hier dominiert baulicher Nachkriegspragmatismus – die funktional gestalteten Hotels sind vom Traumstrand aus wegen des natürlichen Waldgürtels nicht zu sehen. Im Zentrum kreuzen wir einen Mini-Flohmarkt und entdecken an einem Stand mit alten Postkarten eine Ansichtskarte aus Kolberg von 1918, adressiert an die in Berlin lebende Emma Kunow. Die Karte war offenbar aus Emmas Nachlass in den Postkartenhandel geraten und so an ihren Absendeort zurückgekehrt. Eine Karte, geschrieben in Sütterlin von einer anonymen Person mitten in der Endphase des Ersten Weltkriegs, dreieinhalb Monate vor der Kapitulation Deutschlands:

„Claptow d. 26.7.18. Liebe Schwester! und Kinder! Euren Brief erhalten und mich sehr gefreut. Es freut mich das die Grossmutter kommt. hoffent bringt sie euch doch Kartoffel mit. wann Frl. Busch ankommt, über alles schreibe ich Bescheid. Wir sind gesund was ich auch Euch allen wünsche. Auch geht es uns wie bisher sehr gut. Zum Mittag giebt es Kartoffelpuffer o. junge Kartoffel: Die Quittungen schicke ich am 1. Heute sind wir drei Wochen hier, noch drei, dann sind wier auch wieder zu Hause. Es wäre doch schön wenn Otto ankämme. Es wäre doch für kurze Zeit eine Freude den sonst giebt es keine Freude mehr, nur Kummer und Verdruß. Seid herzlich gegrüßt, alle alle, auf wiedersehen.“

Die Ansichtskarte lässt in einen Kurpark und seinen „Frühkonzertplatz“ blicken. Offenbar hat die Unbekannte einen Ausflug nach Kolberg gemacht von Klaptow aus, einem 15 Kilometer entfernten Bauerndorf. Ob sie dort zum Verwandtenbesuch oder Arbeitseinsatz war, ist der Karte nicht zu entnehmen. Von Urlaubsfreuden spricht die Unbekannte ohnehin nicht, sondern von „Kummer und Verdruß“, von Lebensmittelknappheit und einem Otto, auf dessen Fronturlaub die Familie offenbar hofft. Ob ihr Besuch in Kolberg erfreulich war? Der Kurort war im Ersten Weltkrieg zwar keine Front-, aber Reservelazarettstadt, in der wohl viele Hotels und Kurhäuser für militärische und medizinische Zwecke genutzt wurden.

Auf dem Rückweg nach Stuttgart verbringe ich noch ein paar Tage in meiner Ex-Wahlheimat Berlin. Neugierig, wo Emma Kunow gewohnt hat und ob das Haus noch steht, fahre ich in die Schönhauser Allee 163a im Osten Berlins, in den heutigen Szene-Kiez Prenzlauer Berg – 1918 ein hoch politisierter Arbeiterbezirk. Die Mehrheit der Bewohner:innen gehörte der Arbeiterklasse an. Soziale Not prägte den Alltag vieler Menschen. Prenzlauer Berg war eine Hochburg der KPD und der SPD, in der Weimarer Republik kam es hier immer wieder zu Straßenschlachten zwischen Kommunisten, Nationalsozialisten und der Polizei. Hier entwickelte sich eine rege Arbeiterkultur mit Chören, Kabarett und Theatergruppen. Der 600 Meter entfernte „Prater“ war damals nicht nur beliebte Freizeit- und Vergnügungsgaststätte, sondern diente auch Kundgebungen der Arbeiterbewegung. Vielleicht hat Emma sie besucht. Trotz des massiven Nazi-Terrors gegen andere Parteien kam die NSDAP 1933, bei den letzten freien Wahlen, in Prenzlauer Berg auf nur 30 Prozent der Stimmen. SPD und KPD boten ihr auf gleichem Level Paroli. Der Prenzlauer Berg blieb während der NS-Zeit eine Hochburg des Widerstandes.

Das Haus Nr. 163a liegt gegenüber dem 1827 eingeweihten Jüdischen Friedhof. Die Schönhauser Allee, drei Kilometer lang und mit einer Geschichte, die bis ins Mittelalter reicht, war einst ein Zentrum jüdischen Lebens und seiner Kultur. Von der grausamen Zerstörung dieses Lebens zeugen die vielen „Stolpersteine“ vor den Häusern. Auch vor der Nr. 162, dem Nachbarhaus der 163 und 163a, gibt es sie. Hier stand einst die 1897 errichtete „Baruch Auerbach’sche Waisen-Erziehungs-Anstalt“ für jüdische Kinder und Jugendliche. Hätte Emma Kunow 1942 noch in der Nr. 163a gewohnt, dann hätte sie beobachten können, wie in den frühen Morgenstunden des 19. Oktobers und des 29. Novembers die insgesamt 140 Kinder und Jugendlichen und ihre Betreuer:innen von hier deportiert wurden. Sie wurden später in den Wäldern Rigas und in Auschwitz ermordet. Das Gebäude des Waisenhauses wurde im Winter 1943 durch Bomben stark beschädigt,in den fünfziger Jahren abgerissen und durch ein neues Haus ersetzt. Erst seit 2000 wird vor Ort an das Waisenhaus erinnert.ImNovember1943hätteEmmaauchdieDetonationenwahrnehmenkönnen,dieeinmitBombenbeladenesFlugzeugverursachte,alseswährendeinesalliiertenLuftangriffsabstürzte,genauineinengerademal400MeterentferntenHäuserblock.UndEnde1944hättesiedenAnblickderLeicheneinerGruppevonKriegsgegnernertragenmüssen,diesichineinerZisternedesJüdischenFriedhofsversteckthatten,danndenunziert,vonderSSaufgespürtundandenumstehendenBäumenaufgehängtwordenwaren.

Wer liest in 100 Jahren unsere Postkarten?

ImBerlinerAdressbuchvon1918istEmmaKunowodereineFamiliediesesNamensnichtverzeichnet.AuchHausNr.163awurdeimZweitenWeltkriegzerstört.HierstehtjetzteinsanierterDDR-Nachkriegsbau.DerHäuserblocklagimstrategischbesonderssensiblenBereichBerlins.HierimKiezendetedieSchlachtumBerlinmiterbittertenStraßenkämpfenundGefechten,nachdemdieRoteArmeevonNordenherauchüberdieSchönhauserAlleeeingedrungenwarunddenStadtteileroberthatte.

WerEmmaKunowwarundwasmitihrgeschah,habeichnichtherausgefunden.DiePostkarteausKolberghatmichihrabernähergebracht.AnihremWohnortzeigtsichwieimBrennglasdasfinstersteKapiteldeutscherGeschichte.

WaslesendieMenscheninhundertJahrenausunserenUrlaubsgrüßenheraus?DieWeltwirdsichauchdannvölligveränderthaben.DassesmaleineZeitgab,indermanfreireisenkonnte?EsoffeneGrenzengab?InderesnocheineleidlichintakteNaturgab,indermansicherholenkonnte?InderEuropanochkeinemilitärischgesicherteFestungwar,dieMenschenaufderFluchtbrutalabweistodergartötet?Waswirdallespassiertsein,wenndieMenschheitdasJahr2125schreibenwird?Derzeitmöchtemansichdasnichtwirklichvorstellen.

„Was für ein schönes Angebot!“, hieß es vielfach, als wir unsere Autor:innen für unsere Sommerserie anfragten. Ob sie nicht ein Thema hätten, über das sie schon immer mal schreiben wollten? Selbstverständlich. Angesichts konkfliktvoller Zeiten wird nicht alles leicht und luftig werden. Rassismus und Systemkritik kommen vor, Armut und Lachen, aber auch Sylt und sogar das Videospiel Counter-Strike. Zum Auftakt haben wir Don Eulogio, eine echte Type in Mexiko-Stadt, vorgestellt. Die zweite Folge ist einer geheimnisvollen Postkarte gewidmet. (red)

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