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Zeit geben

■ Beim Hamburger Musikfest steht freilich das 20. Jahrhundert im Mittelpunkt

Dem Publikum zeitgenössische Musik schmackhaft zu machen, bedarf es einiger pädagogischer Tricks. Ingo Metzmacher, der Hamburger Generalmusikdirektor, beherrscht sie alle. Seit geraumer Zeit vertröstet er die angestammten Klassik-Zuhörer auf den zweiten Teil der Konzerte, um vor den Pausen Außergewöhnliches zu platzieren. Für das einwöchige Musikfest, das in diesem Jahr zum ersten Mal unter Metzmachers Leitung stattfindet, hat er sich zudem ein nachvollziehbares Thema ausgedacht. „Wie gehen Musiker mit ihrem Stoff, der Zeit, um? Welche Strategien verfolgen sie, um Zeit zu gestalten, ihr voraus zu sein, ihr hinterher zu träumen, sie gar hinter's Licht zu führen?“

Alle erwähnten Ansätze tauchen im Programm des Musikfestes auf: Da sind die minimalistischen Versuche, die Zeitlichkeit auszuhebeln. Solch stiller Protest gegen das flüchtige Wesen von Musik äußert sich bei Steve Reich in ständigen Wiederholungen und in der schier endlosen Dehnung von Prozessen bei Terry Riley. Beide werden gleich im Eröffnungskonzert gespielt.

Für das Streben, der Zeit voraus sein zu wollen, steht Karlheinz Stockhausen. Sein erstes aleatorisches, d.h. mit Zufallselementen angereichertes Stück „Zeitmasze“ wird während der „Langen Nacht der Zeit“ (22.September) zu hören sein.

Am gleichen Abend findet sich mit John Cage auch der legendärste Zeitgestalter der Musikgeschichte auf dem Spielplan. In „4'33"“ erklingt kein einziger von Musikern gespielter Ton. Es funktioniert vielmehr in der Art monochromer Gemälde, die durch Licht und Schatten des Umfeldes gestaltet werden: das Ambiente macht hier die Musik.

Von Mahler und Alban Berg bis hin zu neuesten Kompositionen schlägt das Musikfest einen Bogen über das gesamte 20. Jahrhundert – „Werke, die zu bedeutend sind, als dass man sie dem Publikum Hamburgs weiterhin vorenthalten sollte.“ Aber nicht nur die Stücke sind bemerkenswert ausgewählt, auch viele der Interpreten kennen keine Angst vor Grenzüberschreitungen: So wird sich der amerikanische Jazz-Pianist Uri Caine an einer Neudefinition der Musik Gustav Mahlers versuchen (19. September). Wolfgang Mitterer wagt sich tags darauf mit Elektronik an Bach, und das experimentierfreudige Ensemble Modern, dessen Mitglied Metzmacher selbst viele Jahre war, spielt gleich zweimal. Vorträge, Filme und eine Diskussionsrunde zum Thema ergänzen die Konzerte.

Bleibt zu hoffen, dass das Publikum bei Metzmachers Geschwindigkeit in Sachen Avantgarde mithält. Er richtet sich auf der Website des Philharmonischen Staatsor-chesters direkt an die Betroffenen: „Die Gegenwart lässt fragen, wo Sie bleiben.“ Kultursenatorin Dr. Christina Weiss stellte auf einer Pressekonferenz im Gegenzug fest: „Das Musikfest mit seinem Gegenwarts-Schwerpunkt hat eigentlich auf Ingo Metzmacher gewartet, um mit ihm zusammen umso erfolgreicher in Hamburg ankommen zu können“.

Dafür auch von dieser Stelle aus viel Glück!

Andi Schoon

16.-23.September, Eröffnungskonzert: Kronos Quartett, Werke von Troilo, Burman, Reich, Riley, u.a., Sonnabend, 20 Uhr, Musikhalle; Karten und Programm ebd., bei den üblichen Vvk.-Stellen oder www.hamburger-musikfest.de

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