: Zeig den Mittelfinger
Warum genau war der Mensch noch mal ein Schwein? Die schottische Autorin Laura Hird verfolgt in ihrer Storysammlung „Nägel“ diese Frage bis ins letzte Detail – Nekrophilie und Folter eingeschlossen
Laura Hirds Geschichten sind dreckig, mies und zynisch und zeigen der Frage nach dem Geschmack den Mittelfinger. Niederlagen allenthalben, glücklich enden sie nur dann, wenn das Böse sich einmal mehr mit perfidem Lächeln aus der Affäre zieht – zum Beispiel in Gestalt eines nekrophilen schottischen Söldners. Kurz vor der Verlegung seiner Truppe steigt er wie schon die Tage zuvor noch einmal zur kalten Geliebten ins Bett, um sie am nächsten Morgen in einem Waldstück zu verbrennen.
Hird kennt keine Skrupel, diese einseitige Liebe mit Details auszuschmücken. Es geht wohl vor allem darum: die menschlichen Deformationen und Aberrationen auf diesem unwirtlichen Felsen, der vom All aus betrachtet angeblich doch so einladend aussieht, mit einigem Spektakel und einer gelegentlich am Trash-Kino geschulten Effekthascherei zur Schau zu stellen. Damit die Sonntagsprediger, das Pfeifenraucherkonsortium oder der Handarbeitsclub endlich nicht mehr die Augen davor verschließen, dass der Mensch ein Schwein und praktisch zu allem fähig ist. Natürlich steckt hinter dieser violenten Punk-Attitüde wie bei den meisten literarischen Gewaltverbrechern – Bret Easton Ellis, Andrew Vacchs, Anthony Burgess oder etwa auch Voltaire – ein entschiedener Moralismus, der aber auch einen poetologischen Einwand nahe legt: Kann man das nicht mittlerweile alles wissen? Reicht da nicht ein Gang zum Zeitungskiosk?
Schon. Doch leisten diese Erzählungen der schottischen Autorin, die man wohl besser nicht fragt, woher sie all dies Unglück kennt, durchaus etwas darüber hinaus. Sie schärfen die Empathie für die Opfer – und manchmal sogar für die Täter. Hirds Interesse an den Menschen erschöpft sich eben nicht in der bloßen Gewalttat. Sie leistet im Grunde das Gegenteil des Boulevard-Journalismus. Sie gibt Opfer und Täter ihr Leben zurück, das sonst in der heißen Titelstory verdampft, versucht sie in ihrer ganzen Komplexität darzustellen und möglicherweise sogar zu verstehen.
Gerade dass ihr das nicht gelingt, offenbart die Qualität dieser Prosa. Die Erzählung „Die Mutprobe“ etwa, in der Jackie und Claire einen debilen Freund quälen und schließlich, wenn auch unbeabsichtigt, in den Tod treiben, endet in einer grotesken Szene: „Ihr Verstand hatte völlig ausgesetzt, sie konnte nicht mal sagen, was eigentlich so lustig war. Doch nach und nach ließ sie sich anstecken und stimmte in das Gelächter ein. Sie lachte, bis ihr die Tränen kamen; sie lachte, weil sie Angst hatte, nicht zu lachen; sie lachte, bis sie wusste, dass sie nie wieder aufhören würde.“
Die gelungensten, anrührendsten Storys sind denn auch jene, in denen so etwas wie Moralität nicht nur ex negativo zu haben, also vom Leser erst zu generieren ist, sondern als nicht zu veräußernder Kern noch in ihnen steckt. „Busfahrten“ zum Beispiel. Souverän imitiert Hird hier die Hasstirade eines zwölfjährigen Jungen aus der Unterschicht. Der Ich-Erzähler fährt mit dem Bus durchs nächtliche Edinburgh und kotzt sich aus – über andere Fahrgäste, über die Mutter und den Stiefvater, die seine Zuneigung nicht erwidern, über seine wenig tröstliche Zukunft, über seine kleine, vermurkste Unterschichtenexistenz eben. Dann steigt ein etwa gleichaltriges Mädchen ein, bekommt Probleme mit dem Busfahrer, offenbar hat sie ihre Karte vergessen, bittet deshalb andere Fahrgäste um etwas Geld. Aber niemand hilft ihr, auch der Erzähler nicht, weil er seinen letzten Cent für Süßigkeiten ausgegeben hat. Sie muss wieder aussteigen. Allein, in einem schlechten Viertel, mitten in der Nacht.
Bei der nächsten Station steigt auch der Junge aus, sucht nach ihr, um sie zu begleiten, zu beschützen, aber er kann sie schon nicht mehr finden. Vielleicht ist ihr bereits etwas zugestoßen? Mutlos fährt er nach Hause. Er konnte ihr nicht helfen. Trotzdem war der Versuch möglicherweise nicht völlig vergeblich …
Laura Hird ist ein bisschen wie dieser Junge. Auch sie kann das Leid nicht verringern, die Gräuel nicht ungeschehen machen, aber man hat trotzdem das Gefühl, es sei etwas gewonnen – allein durch ihre Anteilnahme.
FRANK SCHÄFER
Laura Hird: „Nägel“. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Eichborn, Frankfurt a. M. 2003, 224 S., 18,90 €