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■ Zehn Jahre Mauerfall (3): Am 9. 11. 1973 starb Franz Rutschky. Das Fest der deutschen Massen 1989 wäre ihm unheimlich gewesenEine Art Gegenzauber

Die seltsam inhaltslose Begeisterung passte in die Formel: Der Krieg ist vorbei

Von dem verrückten Kulturwissenschaftler Aby Warburg stammt der Begriff der „Pathosformel“. Damit ist gemeint, dass eine Geste, ein Bild, eine Parole in der (gleichgültigen) Gegenwart eine Geste, ein Bild, eine Parole aus der heroisch-hochbedeutsamen Vergangenheit wiederholt und dadurch ihre Ausdruckskraft drastisch steigert.

Nach demselben Schema sind Gedenktage gebaut. Irgendein Datum im frühen November, dessen Nummerierung normalerweise ignoriert würde, erregt rundherum Aufmerksamkeit, weil an demselben Tag vor zehn Jahren . . . Wow!

Man weiß inzwischen, dass Schabowskis Pressekonferenz die Mauer eher zufällig aufgemacht hat. Keineswegs wollten die alten Herren der SED den „Wegfall“ (Thomas Rosenlöcher) der DDR mit diesem Datum verknüpfen – wiewohl ich mir von einem Ostberliner Romancier habe erzählen lassen, dass er's am 9. November 1989, als die Massen gen Westen strömten, genau wusste, jetzt geht der erste deutsche Arbeiter-und-Bauern-Staat fliegend in Auflösung über.

Als Pathosformel genommen, hätte sich die SED bekanntlich kein besseres Datum auswählen können als den 9. November. Das Datum wiederholt im Jahr 1989 drei andere neunte November, Daten von schauerlicher Ausdruckskraft.

Am 9. November 1938 findet die sarkastisch so genannte „Reichskristallnacht“ statt: Das gesunde Volksempfinden (in der Gestalt der SA) zerstört und plündert jüdische Tempel, Geschäfte und Wohnungen. Mir wird stets in Erinnerung bleiben, was der Filmschauspieler Rainer Penkert (in einer Dokumentation von Horst Königstein) erzählt hat: Wie er damals, ein anglophiler „Swingbubi“, in einem zerstörten Schaufenster der Leipziger Straße nach langem, langem Zaudern den wunderbaren Herrenhut klaute, den er seit Wochen sehnsüchtig als unerreichbar angeschmachtet hatte – und dann schämt er sich des Diebstahls so gründlich, dass er den Hut kein einziges Mal aufsetzt.

Goebbels machte seinen eigenen Gebrauch von Pathosformeln. Dass er die jüdischen Bürger ausgerechnet am 9. November 1938 quälen ließ, das hing mit dem 9. November 1923 zusammen. Da misslang bekanntlich Hitler sein Putsch in München; seiner Selbsternennung zum Reichskanzler konnte auch der General Ludendorff nicht die Zustimmung von Reichswehr und Polizei verschaffen – jener General Ludendorff, der gemeinsam mit Hindenburg den Krieg verloren, dann aber zivilen Politikern die Lasten von Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen übertragen hatte, wofür seinesgleichen sie dann als „Novemberverbrecher“ titulieren durften.

Am 9. November 1918 dankte Kaiser Wilhelm II. ab, und Philipp Scheidemann rief die Republik aus – diesen 9. November wollte Hitler 1923 mit seinem Putsch gleichsam löschen (erfolglos), und beide Niederlagen sollte 1938 die „Reichskristallnacht“ ungeschehen machen (denn bekanntlich waren ja an allem Unglück Deutschlands irgendwie die Juden schuld).

So ist das Datum des 9. November eigentlich mit Nazidreck beladen. Sie haben den 9. November 1918 als Tag des Verrats und der Niederlage 1923 durch den Putsch und 1938 durch die Pogrome aufzuheben versucht. Unterm Aspekt der Pathosformel betrachtet: Die Vergangenheit sollte von der Gegenwart gewissermaßen besiegt werden (bei Warburg war's ja umgekehrt). Und ausgerechnet an diesem nicht nur mit Schicksal beladenen, sondern auch noch mit der Nazikonzeption von Schicksal kontaminierten Tag öffnet die SED in ihrem Ungeschick halb unabsichtlich die Mauer und startet das größte und schönste Straßenfest des Jahrhunderts.

Ich habe das immer als eine Art Gegenzauber gesehen, weiße Magie. Gerade weil es Zufall war und kein PR-, gar Schicksalskalkül. Und weil es die schiere Freude und Begeisterung war, von der man noch gar nicht wusste, worauf sie sich eigentlich richtete. Jedenfalls auf keinen Waffengang, kein nationales Erhabenheitserlebnis, eher auf Dixan, Coca-Cola, die bekannten Bananen und die zaubrischen Westautos, zivile Zwecke also, private Glücksmöglichkeiten. Die SED konnte ihr verfehltes Unternehmen liquidieren, ohne mit verbrannter Erde auch nur metaphorisch zu drohen; kein hoher Funktionär musste sich aus berechtigter Vergeltungsangst das Leben nehmen. Was auch immer man gegen das Politbüro und die starren alten Männer sagen will, mit der Gangsterbande von A. H. hatten sie nicht die geringste Ähnlichkeit.

So hätte die weiße Magie, der Gegenzauber des 9. November 1989, in der Tat die Nazischicksalhaftigkeit des Datums dementiert, als Pathosformel den 9. November 1918 aufgerufen, als die korrekten Konsequenzen aus dem verlorenen Krieg gezogen und das spätabsolutistische Kaiserreich in eine Republik verwandelt werden sollte. In meiner Imagination sammelte die seltsam inhaltslose Begeisterung des 9. November 1989, die schiere Festlichkeit, sich träumerisch in der Formel: „Der Krieg ist vorbei.“ Was ich damit genau dachte, wusste ich nicht; aber ich dachte es intensiv. –

Am 9. November richtete sich die Freude auf Dixan, Coca-Cola und Westautos

Weil die offiziellen Pathosformeln oft ein lebensgeschichtliches Unterfutter aufweisen, will ich verraten, dass der 9. November – an dem die Mauer aufging und so weiter – eine starke persönliche Bedeutung für mich besitzt. Am 9. November 1973 ist um 4.55 Uhr morgens im Alter von knapp 80 Jahren Franz Rutschky gestorben. Er war, wie ich gern erkläre, ein Jahr jünger als Walter Benjamin und zwei Jahre älter als Ernst Jünger; freilich ein kleiner Angestellter, ängstlich und von Depressionen verfolgt. Sein Leben hat der 9. November 1918 ebenso geprägt, wie es die Nazipathosformeln von 1923 und 1938 taten. Er war 1914 so begeistert in den Krieg gezogen wie Ernst Jünger, wurde aber von seinen Schrecken so tief getroffen, dass sie ihn bis ans Lebensende in Albträumen verfolgten. Wiewohl im Kaiserreich geboren, war er ein richtiger Bundesrepublikaner. Dass ich 1962 den Wehrdienst verweigerte, hat ihn mit Befriedigung erfüllt.

Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er in einem Dämmerzustand aus Zerebralsklerose und Psychopharmaka, und ich kann mir nur schwer vorstellen, wie er den 9. November – da wäre er 95 Jahre alt geworden – erlebt hätte. Vermutlich wäre es ihm unheimlich gewesen, das große Fest der deutschen Massen; wahrscheinlich wäre ihm ihre gründliche Friedfertigkeit entgangen, weil sich die beiden Nazi-9.-November nach vorn gedrängt hätten. Gut möglich, dass er mit Günter Grass und seinesgleichen einer Meinung gewesen wäre, die Deutschen sollten besser in mindestens zwei Staaten getrennt leben. Tja.

Michael Rutschky

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