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Zahlen sind neutral. Aber nicht die, die sie betrachten, erlebt Alke WierthDie Islandisierung des Abendlandes

Alle reden vom Neutralitätsgesetz. Dabei weiß keiner, was Neutralität eigentlich ist und wie sie geht. Ich weiß aber: Statistiken sind neutral. Sie erklären, verurteilen oder verteidigen nichts. Das ist pure Neutralität und deshalb schön. Doch anfangen können wir Menschen mit dieser Schönheit meistens nichts. Weshalb jede und jeder, der eine Statistik in die Hand bekommt, gleich anfängt, zu erklären, zu bewerten und so Unterschiede herzustellen.

Die Bevölkerungszahl Berlins ist in den vergangenen fünf Jahren um 243.500 Personen gestiegen. Davon sind 45.000 deutsche und 198.500 ausländische StaatsbürgerInnen. Das teilte das Statistische Landesamt kürzlich mit. Nun erreichten uns auf Nachfrage genauere Zahlen zu den Herkunftsländern der NeuberlinerInnen. So stieg die Zahl der SyrerInnen um 1.214,8 Prozent: von 2.176 Ende des Jahres 2011 auf 28.610 Ende 2016. Wenig verwunderlich: Das sind Flüchtlinge.

Noch größer sind die Zuwächse bei Menschen aus Eritrea (1.129,5 Prozent) – die sieht allerdings in absoluten Zahlen ganz anders aus: von 78 stieg die Gesamtzahl auf 959. Auch das sind wohl überwiegend Geflüchtete. Noch weit stärker stieg der Anteil der Menschen aus dem Sudan in Berlin: 1.866,7 Prozent. Tatsächlich lebten damit Ende 2016 genau 177 SudanesInnen in Berlin, fünf Jahre zuvor waren es nur neun. Das zur Neutralität von Prozentzahlen.

Doch Statistik kann den menschlichen Hang zur Suche nach Erklärungen auch vor Herausforderungen stellen. So hat sich auch die Zahl in Berlin lebender NeuseeländerInnen mehr als verdoppelt (2011: 443, 2016: 894), ebenso die Zahl der Menschen aus „St. Kitts und Nevis“ sowie aus „St. Vincent und die Grenadinen“: jeweils von drei auf sechs Personen. „Klimawandel“, vermutet mein Kollege P. (ohne zu wissen, wo sich diese Länder befinden, aber das unter uns). Dagegen spricht, dass sich die Zahl der Menschen aus den tatsächlich vom Klimawandel bedrohten Ländern Samoa und Tonga massiv reduziert hat: im Falle Samoas um 50 Prozent von 6 auf 3, im Falle Tongas sogar um 62,5 Prozent von 16 auf sechs.

Vielleicht sind sie eingebürgert worden? Das könnte hinter dem Rückgang der EinwohnerInnenzahl aus den in der Statistik „palästinensischen Gebieten“ genannten palästinensischen Autonomiegebieten um 41,5 Prozent von 176 auf 103 stecken. Statt der PalästinenserInnen suchen nun offenbar IsländerInnen Schutz oder anderes in Berlin: Von 343 auf 607 und damit um 77 Prozent stieg ihre Zahl. Kollege P. warnt bereits vor der „Islandisierung des Abendlands“. Foto: dpa

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