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Zählwerk der Zeit

■ Weserburg zeigt Roman-Opalka-Retrospektive im Fotoforum / Zahlen malen bis zum Ende

Staunen, Beklommenheit, Furcht und Bewunderung überkommt den Besucher von Roman Opalkas Ausstellung. Da ist einer angetreten, die Zeit einzufangen, und mit der Zeit den eigenen Tod. Genau jenes Monster, vor dem wir alle Reisaus nehmen mittels Fältchen-Cremes, Faceliftings und Jungbrunnen-Pillen. Nicht so Roman Opalka. Seit 1965 arbeitet er nur noch an einem Werk, dessen Sinn es ist, sein eigenes Vergehen zu dokumentieren. Und da es Roman Opalka ist, der mit seinem Werk sterben wird, nennt er sein Oeuvre „Roman Opalka 1 — unendlich“. Darunter hat man sich, bis heute, 180 mannshohe Leinwandgemälde vorzustellen, die nichts weiter tragen als weiße Ziffern, säuberlich auf hellblauem Grund gemalt. Von 1 bis 35327 kam Roman Opalka auf dem ersten Gemälde, seither zählt er unerbittlich weiter, dem Ende entgegen: Also dem Augenblick, in dem das letzte, abgebrochene Gemälde zur Vollendung seines Werkes führt. Optisch dokumentiert Opalka den Fluß der Zeit durch einen immer heller werdenen Untergrund, da er jeder neuen Grundierung 1 Prozent mehr Weiß beimischt.

Irgenwann wird sich die weiße Schrift nicht mehr von dem weißen Untergrund abheben, dann existiert die Zeit nur noch im Moment des Trockenens der Farbe: Eine schwindelerregende Vorstellung — oder ein künstlerischer Selbstmord.

Opalka ist angetreten, das letzte, vollendete, endgültige Bild zu malen, doch er vertraut nicht nur auf den bildhaften Ausdruck, sondern greift zu ergänzenden Medien. Nach jedem vollendeten „Detail“ — so nennt Opalka diese Teile eines Ganzen — läßt er sich fotografieren, in immer derselben Pose, mit gleichem Hemd und neutralem Gesichtsausdruck, dem Werk der Zeit zugewandt, die tiefer werdende Furchen in seinen Zügen hinterläßt. Dieser Momentaufnahme steht ein Kontinuum gegenüber: Jede Zahl spricht der Künstler aus, während er sie malt, und registiert dies auf einem Tonband. Dies hat in seiner Muttersprache polnisch besonderen Reiz, da man hier Zahlen in der Reihenfolge ihrer Ziffern spricht. Ton- und Fotodokumente sind in der Ausstellung mit einbezogen, was ihr einen fast sakralen Charakter verleiht.

Ohnehin ist die Konzeption der Ausstellung zu loben, die das Neue Museum Weserburg in der Räumen des Fotoforums zeigt. Man hat sich bemüht, auch die Entstehungszeiträume der Gemälde optisch einzufangen, indem zeitlich eng aufeinanderfolgende Werke auch dicht beieinander hängen. Wer übrigens glaubt, die „Zeittafen“ Opalkas seien ästhetisch belanglos, irrt. Durch Farbabstufungen zwischen dem Eintauchen des Pinsels, durch Wiederholungen von Zifferfolgen entstehen Muster, nach außen oder innen driftende Bewegungen, deren Reiz gerade darin liegt, daß sie einem starren Konzept zufällig entspringen. Heute, nach 27 Jahren, ist Opalka bei Ziffern in Viermillionenhöhe angelangt. Bid zur magischen Zahl 7777777 wird er noch leben, das hat sich Opalka schon ausgerechnet, doch die Unendlichkeitszahl 88888888 wird er nicht mehr erreichen: Heute ist der in Frankreich gebürtige Pole bereits 61 Jahre alt.

Wie lebt ein Künstler mit dem eigenen Vergehen? Thomas Deecke, der die Ausstellung als Leiter des Neuen Museums konzipiert hat, ist mit Roman Opalka auch persönlich bekannt. Deecke weiß nur Erfreuliches zu berichten: Nein, Opalka bläst keine Trübsal. Nein, er lebt auch nicht alleine, sondern zusammen mit seiner Frau in Südfrankreich. Er hat einen Tagesablauf wie wir alle, er schläft, arbeitet nach Bedarf oder Belieben. Opalka greift nicht zu mythischen oder religiösen Hilfskonstruktionen, um den Tod zu erfassen, sondern freut sich am Alltag. Nur eines kann Opalka nicht, was wir so gerne tun: Sein Werk beenden. Dann würde er nämlich den Schluß verpassen. Tanya Lieske

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