piwik no script img

ZWÖLF ZEITUNGEN DER IRANISCHEN REFORMBEWEGUNG VERBOTENIranisches Schachspiel

Wahrheit ist nie eindeutig. Sie lebt vom Pluralismus, vielfachen Deutungen der Realität. In Iran ist Wahrheit unerwünscht. Irans Konservative haben gestern zwölfmal die Wahrheit verboten. So viele reformorientierte Zeitungen müssen auf Anordnung des Teheraner Pressegerichts ab sofort ihren Vertrieb einstellen. Die iranischen Konservativen um Ali Chamenei klammern sich an die von Revolutionsführer Chomeini verordnete Einheitswahrheit. Niemand darf auch nur einen Zollbreit von ihr abweichen, weil sonst die Grundlagen der Islamischen Republik – etwa das Prinzip der unfehlbaren Führerschaft der Geistlichen – in Frage stünden.

Die gestrige Verbotsaktion kam nicht unerwartet, aber ihr Ausmaß erschreckt. Wie zahlreiche Vorläufer zielt auch dieser Schlag gegen Staatspräsident Chatami. Und er trifft Chatami dort, wo es ihm am meisten wehtut. Der liberale iranische Präsident ist machtlos ohne die Reformpresse. Zeitungen wie Sobhe Emruz und Asre Asadegan transportierten stets die Politik Chatamis in die Bevölkerung, vorbei am konservativ indoktrinierten Fernsehen. Ohne den Mut kritischer Journalisten, die den Terror von Polizei und Geheimdiensten schonungslos aufdecken, hätte Chatami nicht die Kraft, seine Politik in der Islamischen Republik zu erläutern und umzusetzen.

Die Vorgehensweise der Konservativen ist schon rituell: Auf eine Hetzpredigt Chameneis folgte der organisierte Straßenprotest, mit dem sich schließlich die Zeitungsverbote zumindest zum Schein rechtfertigen lassen. Zum Ritual gehört aber auch, dass die verbotenen Zeitungen innerhalb weniger Tage unter neuem Namen wieder erscheinen. „Es ist wie ein Schachspiel“, hat Alireza Alavitabar, Chefredakteur der größten iranischen Reformzeitung Sobhe Emruz, im Interview mit der taz den ewigen Pressekampf zwischen Konservativen und Reformern charakterisiert. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden die jetzt verbotenen Zeitungen bald wieder an jedem iranischen Kiosk zu haben sein. Ihre Herausgeber müssen sich nur einen neuen Namen ausdenken und diesen bei der Registrierbehörde anmelden. Vielleicht wäre „Hakikat“ ein geeigneter Titel. Das ist persisch und heißt „Wahrheit“. FLORIAN HARMS

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen