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ZWISCHEN DEN RILLEN

■ Begleiter häuslicher Krisen im kleinen Mass-Stab

Früher wäre es gleichgültig gewesen, ob Billy Bragg ein Gedichtblatt oder eine Platte herausgebracht hätte: Die Ödnis seiner Vertonungen täuschte darüber hinweg, daß das Medium — bei ihm — der Message immer eine knappe Sekunde hinterherhinkte. Bei Don't Try This At Home ist ihm die Musik wichtiger als je zuvor, wobei er berühmte Spezis heranzieht — Johnny Marr, Kirsty MacColl, einige der REMs —, um seine bisweilen bittere Pille zu versüßen. In der simpelsten Fassung, wie bei Moving the Goalposts und Trust, bringt die Gegenwart eines einsamen Flügelhorns einen Hauch geschliffener Klasse mit sich: während das komplexere Arrangement, das er Cindy of a Thousand Lives zukommen läßt, eine Vorstellung der verborgenen Tiefen aufkommen läßt, die dem schwierigsten Song der Platte eigen sind.

Trotz solcher Songs wie Rumours Of War und North Sea Bubble — Rückfälle in Braggs sentimentale Didaktik — stellt Don't Try This At Home („Probiere das nicht zu Haus“), wie der Titel schon ahnen läßt, Braggs Reifung vom Allerweltspolemiker zu einem Wegweiser in Herzensaffären dar, und einem Begleiter häuslicher Krisen im kleinen Maßstab.

Noch verläßt er sich sehr auf Wortspiele: „hurt attack“, „an out of bed experience“ und, extrem beredt: „a dedicated swallower of fascism“ („ein passionierter Faschismusschlucker“), aber es gibt auch Songs, die auf zartere Weise klug und reif sind, wie Mother Of The Bride, Sexuality und Wish You Were Her, in denen sich der alte Aktivistenslogan bewahrheitet, daß das Individuelle das Politische ist.

Bragg hat seine Art, bestimmte Themen zu behandeln, in eine eigentümliche Balance gebracht: Das Phänomen tritt am deutlichsten zutage im scharfen Kontrast zwischen The Few, einer in typischer Weise verurteilenden Anklage von Fußballrowdies, und God's Footballer, einem anrührenden Bericht über Peter Knowles — einem Siebziger-Jahre-Star beim Team der Wolves — und wie er den Sport aufgab, um sich als Zeuge Jehovas auf das Predigen zu konzentrieren: „for he knows beyond the sport lies the spiritual“ („denn er weiß, daß hinter dem Sport das Spirituelle liegt“). Das hat ihn auch in die Lage gebracht, mit Trust — im Mittelpunkt steht die Zerknirschung eines Mädchens über ein paar Runden von nicht-savem Sex — den bisher bewegendsten Song zum Thema Aids zu produzieren, der aus eigener Kraft effektiver ist als sämtliche Cole-Porter-Covers in aller Welt.

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Talk Talk ist eine Popgruppe von passabler Fertigkeit gewesen, bis sie genug Geld zusammen hatten, auf die Wünsche ihrer Fans mit Hohn zu reagieren und so Musik zu machen, wie die Gruppe es wirklich wollte: mäandernd, melodielos, die langsam aus den Improvisationen splittert, anstatt aus den Begrenzungen der alten Welt — Struktur, Liedkunst — geschnitzt zu werden. So richtige Musik für Musikusse, Rockmusik, die Jazz sein möchte — wie es übler nicht sein könnte.

Laughing Stock, wie der Vorgänger Spirit Of Eden, will wie die Platte Astral Weeks sein, hat aber nichts von deren dramatischer Konzeption und riskiert im Vergleich wenig. Was dabei herauskommt, ist No Fun, genauer: Dämmerstimmung beim Cello und bei der Gitarre, schleichend-klappernde Becken, Doppelbaß, beerdigungsmäßig langsame Tempi, verwaschene Texturen, Flüstergesang, undurchsichtige Texte und grundlos verlängerte Titel. Dies ist die moderne Entsprechung „progressiver“ Musik, inkl. der snobistischen Selbstachtung, die dazu gehört.

Diese „Songs“ — es sind offenbar sechs — haben im besten Fall einen flüchtigen Blick durch das instrumentale Buschwerk geworfen, das, obwohl Talk Talk offensichtlich den Wunsch hat, etwas Flüssiges und Organisches herzustellen, auf ganzer Strecke tödlich reglos bleibt. Was Mark Hollis' Texte angeht, mag der Himmel wissen, was den armen Kerl umtreibt. Man hat den Verdacht, eine Psychoanalyse hätte sich als billiger erweisen können.

'Independent‘ vom 26. September 1991.

Billy Bragg: „Don't Try This At Home“;

Go Discs 828279

Talk Talk: „Laughing Stock“; Verve 847717

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