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ZWISCHEN DEN RILLEN VONTHOMASWINKLER

England. Wir schreiben den Sommer 1986. Eine Horde gerade dem Teeniealter Entwachsener entdeckt die Gitarre neu, kann sie aber leider nicht bedienen. Man rafft die letzten verbliebenen Erkenntnisse vom Rande der Lagerfeuer zusammen und beginnt draufloszuschrammeln. Die Smiths sind die erklärten Favoriten, aber deren Johnny Marr kann wenigstens spielen. Was bleibt, ist die gemeinsame Liebe zur Melancholie. Die Musikzeitschrift 'New Musical Express‘ bringt wie jedes Jahr eine Compilation-Kassette heraus, und ein Name für die Welle ist gefunden. Fortan begleiten die „C86“-Bands musikalisch die in Großbritannien gerade beginnende Rezession.

England. Frühling 1992. John Major und seine Tories gewinnen trotz großer wirtschaftlicher Probleme und entgegen aller Voraussagen von Meinungsforschern die Unterhauswahlen. Und The Jesus & Mary Chain und die Pale Saints machen neue Platten.

Die Gebrüder William und Jim Reid erkannten Mitte der 80er in ihrer milchgesichtigen Einfalt, daß Innovation im Pop selten etwas mit der Struktur der Songs als vielmehr mit neuen Errungenschaften im Sound zu tun hat. Ein Popsong muß simpel sein, sonst ist er kein Popsong mehr. Also dachten sich The Jesus & Mary Chain zwei, drei hübsche Töne zu vier, fünf möglichst provozierenden Worten aus und unterlegten dies mit einem höllischen Lärm aus oftmals einem halben Dutzend verschiedener Gitarrenfeedbackspuren. Ihr besonderes Verdienst war es, den „White Noise“, der durch die moderne Studiotechnik vom Aussterben bedroht war, wieder in die Popmusik zurückgebracht zu haben. Annähernd so massiv hatte ihn bisher niemand eingesetzt. Vom Bandnamen über die zur Schau gestellte Arroganz und die viertelstündigen Auftritte für volle Eintrittspreise bis zu den Texten und dem Lärm war alles auf Provokation ausgelegt. Und es funktionierte. Ihr 1985 erschienenes Debüt-Album Psychocandy ist vielleicht die beste Gitarrenpop-LP der 80er Jahre, weil Innovation und Kommerzialität eine perfekte Symbiose eingehen. Auf ihren folgenden Platten entfernten sie sich immer weiter von ihren eigenen Vorgaben, dünnten ihren so perfekten Sound immer mehr aus und glaubten plötzlich, sie könnten Songs schreiben, die auch für sich selbst stehen können. 1989 auf Automatic schließlich war nur noch bloßes Lamentieren geblieben, ihre ureigenste Faszination reichte über eineinhalb Stücke nicht hinaus.

Der Titel der neuen LP Honey's Dead ist zugleich Erinnerung und Absage an die eigenen Anfänge. (Ihre vierte Single hieß Just Like Honey.) Und der LP-Titel ist durchaus programmatisch zu verstehen. J&MC gehen zwar wieder zwei Schritte zurück, als die Zeiten noch bessere waren, türmen wieder Lärm auf Lärm und wollen wieder provozieren. Aber während sich wegen des Songs Jesus Suck damals Arbeiter im Preßwerk weigerten, die Single zu stanzen, wird die Zeile „I wanna die just like Jesus Christ“ kaum denselben Effekt haben. Die Reids haben nicht ihre Zähne verloren, aber der Zahn der Zeit ging nicht spurlos an ihnen vorbei. Damals konnte man mit Blasphemie noch Rabbatz schlagen, heute ist Satanismus schon fast ein Gesellschaftsspiel.

Auch die moderaten Versuche, sich musikalisch zu modernisieren, etwa durch den vermehrten Einsatz von elektronischen Beats, bleiben in den Kinderschuhen stecken. Auf der anderen Seite wagen sie sich in ihren Soundexperimenten nicht weit genug vor, vielleicht weil William Reid beweisen muß, daß er inzwischen Gitarre spielen kann, anstatt weiter Feedback auf Feedback zu stapeln. Als wollten sie krampfhaft beweisen, daß sie ernstzunehmende Musiker sind, versuchen William und Jim zu singen, anstatt ihre leidenschaftslosen, angewidert vom Leben abgewandten Stimmen zum Höllenlärm kontrastieren zu lassen. Honey's Dead ist wie gemacht für den Altfan, der sich freut, daß seine Helden wieder auf dem Wege der Besserung sind. Aber sie ist wahnsinnig altmodisch — und darum, jetzt, so englisch.

Waren The Jesus & Mary Chain so etwas wie die Großväter der C86-Bewegung, dann sind die Pale Saints bereits die zweite Generation, die die Euphorie des Aufbruchs nicht mehr mitbekam, sondern nurmehr die musikalische Melancholie ungebrochen übernahm, womit die Band zur Karikatur verkam. Möglichst blaß und still mußte man sein, an der Welt verzweifelt, obwohl man sie noch gar nicht gesehen hatte. Sauggummiäugige Kinder, großgezogen mit TV und Fertiggerichten, aus den Londoner Vorstädten oder den Industriezentren Rest-Englands.

Die Pale Saints aus Leeds waren sicherlich nie die beste Band dieser zweiten Generation (eher schon die Label-Kollegen Lush, mit denen sie gerne tourten), aber doch eine der extremsten. Und immerhin brachten sie es in schöner Regelmäßigkeit in die Independent-Charts. Auf ihrer zweiten LP In Ribbons gibt es kaum ein Hoch und Runter der Stimmung, sondern nur ein Immertiefer. Es gibt Stücke ohne jeden Rhythmus, in denen nur Gitarren an- und wieder abschwellen, während im Hintergrund Sänger Ian Masters wie ein beleidigter Vierjähriger um Schokolade greint. Ab und zu versuchen die Pale Saints einen zu überraschen, wenn in einem besonders stillen Teil eine etwas lautere Gitarre hineinschrammelt.

Nur wenn die Stimme von Gitarristin Meriel Graham erklingt, nimmt man den heiligen Oberschülern irgendwas ab. Fragt sich nur, was?

Länder haben eben nicht nur die Regierungen, die sie verdienen, sondern auch die Musikanten.

Pale Saints: In Ribbons, 4AD/ Rough Trade 120.1319.2

The Jesus & Mary Chain: Honey's Dead, Blanco Y Negro/ Warner BYN 26 9031-76554-1.

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