ZUM ERSTEN MAL STREIKEN OSTDEUTSCHE BAUARBEITER FÜR IHRE LÖHNE: Tarifflucht und die Folgen
In Lochau streiken 20 Arbeiter – gegen die gesamte Bauwirtschaft. Vordergründig geht es den Mitarbeitern eines Betonsteinwerkes um das eigene Portmonee. Hintergründig aber wird die ganze Branche angeklagt. Die macht bekanntlich derzeit eine Rosskur durch. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen sie an den größten Kostenfaktor ran – an Löhne und Gehälter. Dort aber können die Bauunternehmen sparen, die nicht an Tarifverträge gebunden sind. Der Trend heißt Tarifflucht.
Es ist doch Wahnsinn, im vom Arbeitslosigkeit geplagten Osten Tariflohn zahlen zu wollen. Die Wirtschaftswissenschaftler wissen: Gerade dort müssen Unternehmen frei bestimmen können, was sie zahlen – schon aus Fürsorgepflicht ihren Arbeitern gegenüber, deren Arbeitsplätze erhalten werden sollen. Ökonomisch ist das sicher richtig, aber gesellschaftspolitisch höchst bedenklich: Der Tariflohn ist ein Ordnungsfaktor der Wirtschaft. Erst das System der Tarifgestaltung hat der Bundesrepublik zu dem verholfen, was heute unter dem Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ firmiert.
Natürlich: Für die besonderen wirtschaftlichen Bedingungen im Osten muss es auch besondere unternehmerische Handlungsfreiheiten geben. Wenn aber nahezu eine ganze Branche Tarifflucht betreibt, kann das für die soziale Marktwirtschaft nicht ohne Folgen bleiben. Schon beobachten Gewerkschafter, wie ostdeutsche Problemlösungen in den Westen schwappen, wie auch dort immer mehr Unternehmen keine Tariflöhne mehr zahlen. Und das nicht nur in der Baubranche.
Unternehmer werden stets die Schlupfwinkel nutzen, die ihnen geboten werden. Unbestritten: Der Baubranche im Osten geht es grottenschlecht. Aber wenn es normal wird, dass sie keine Tariflöhne mehr zahlt, dann drohen amerikanische Verhältnisse. Vor diesem Hintergrund kommt dem Solidarpakt II eine neue Funktion zu: Nur wenn es gelingt, den Osten mit einem zweiten, teuren Investitionsprogramm anzukurbeln, wird das bewährte bundesdeutsche Tarifsystem künftig Bestand haben. Die Zeichen, die es derzeit für ein solches Programm gibt, stimmen nicht besonders optimistisch: Dieser Tage vermeldete der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck, mit dem Geldgepumpe müsse Schluss sein. Sollte er sich durchsetzen, muss sich die Republik damit abfinden, dass ihre Marktwirtschaft demnächst keine soziale mehr ist. NICK REIMER
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