ZDF-Doku über Pariser Banlieues: Das andere Frankreich
Sie sind verrufen, heruntergekommen und gefährlich: die Pariser Vorstädte. Die ZDF-Korrespondentin Susanne Freitag hat sie besucht.
Ein französischer Bekannter hat einmal fasziniert davon erzählt, wie er mit dem ICE nach Frankfurt gefahren sei. Gerade eben noch sei der Zug durch den Wald gerollt und dann schon mitten durch die Innenstadt. Ob es denn in Deutschland überhaupt keine Banlieue gebe?
Natürlich gibt es hierzulande die weniger zentralen Orte in oder außerhalb der Stadtgrenzen, die dann Vorstadt oder Vorort genannt werden. Mit diesen Begriffen wird „banlieue“ gemeinhin ins Deutsche übersetzt - ohne dass sie deshalb das besagen könnten, was ein Franzose meint, wenn er sagt: Banlieue.
Armut, Arbeitslosigkeit, Migration, Integration, Bildungschancen, Islamismus, Kriminalität, Drogendealer... Die Schlagworte, die Susanne Freitag in ihrem Film über „Frankreichs Vorstädte zwischen Revolte und Religion“ verhandelt, werden auch in Deutschland diskutiert. Zum Beispiel anhand der Berliner Ortsteile Kreuzberg und Neukölln.
Definitiv keine No-Go-Area
Auslandsjournal, die Doku: Frankreichs Vorstädte zwischen Revolte und Religion, Mittwoch, 8. April, 00.45 Uhr, ZDF.
Das aber sind zentrale Gebiete, statistisch arm, gleichwohl zunehmend gentrifiziert - definitiv keine No-go-Areas, als welche Susanne Freitag die Banlieue qualifiziert: „Paris ist nur durch die Stadtautobahn von den Problembezirken getrennt. Aber dazwischen liegen Welten.“ Und: „Das hier ist ein anderes Frankreich. Mit anderen Regeln.“ Und: „Die Gesetze der Republik hören da auf, wo der Bandenbezirk beginnt.“
Susanne Freitag ist seit 2002 Korrespondentin im ZDF-Studio Paris. In diesen Jahren hat sie also nicht nur den für die politischen TV-Magazine typischen, die Grenze zum Reißerischen gelegentlich austestenden Duktus verinnerlicht. Sie hat auch Kontakte geknüpft.
Drehs in der Banlieue seien sehr gefährlich, sagt sie. Aber sie kennt zum Beispiel den Rapper und ehemaligen Dealer Alibi Montana, der Autorität genießt, die Lage für sie sondiert. In La Courneuve und Le Mirail und in Clichy-sous-Bois - wo es im Oktober 2005 zu Ausschreitungen kam, die bald auf andere Banlieues übergriffen. Bilder aus dem Internet zeigen Männer mit Gesichtsmasken und Maschinenpistolen vor dem „Balzac“, einem berüchtigten Sozialbau in La Courneuve, über den das staatliche Gewaltmonopol schließlich nur durch eine Maßnahme zurückzugewinnen war: Abriss.
Heimat der „Charlie-Hebdo“-Attentäter
So wie diese Männer sahen auch die Charlie-Hebdo-Attentäter aus, als sie am 7. Januar zwölf Menschen ermordeten. Kein europäisches Land hat so viele Dschihadisten hervorgebracht wie Frankreich. Alibi Montanas Bruder hat mit Amedy Coulibaly, der am 8. Januar eine Polizistin und 9. Januar in einem jüdischen Supermarkt vier weitere Menschen erschoss, – der aus der Banlieue Grigny stammt –, im Gefängnis gesessen.
Er erzählt, wie die Islamisten dort missionieren: „Sie suchen sich die Leute aus, die labil sind und nie Besuch bekommen. Sie machen ihnen klar, die da draußen haben dich hängenlassen, wir sind deine Familie. Sie geben ihnen zu essen und helfen, wo es geht. Solange bis der Gefangene wirklich glaubt, dass diese Leute die Wahrheit sagen. Und dann fangen sie an.“
Foudil Benabadji ist muslimischer Gefängnisseelsorger. Für Leute wie ihn, die erste Generation algerischer Einwanderer wurden die Wohnblöcke der „cités“ einst aus dem Boden gestampft. Er sieht die Probleme der Religionen miteinander vor allem als Folge großer Unkenntnis. In Frankreich gibt es – anders als in Deutschland – keinen schulischen Religionsunterricht. Das laizistische Dogma in der Verfassung verbietet das. Sollte hierin wirklich ein Grund liegen für die Eskalation der Gewalt?
Susanne Freitag stellt darüber hinaus leider keine Vergleiche an - es mag in der Natur ihres Jobs als Paris-Korrespondentin liegen, dass sie allein in Frankreich unterwegs war. Nach mehr als 30 gescheiterten Rettungsplänen haben die Menschen in der Banlieue kaum Hoffnung, Susanne Freitag am Ende ihres Films auch nicht: „In den Vorstädten hat sich viel verändert – aber nicht viel verbessert.“
Ob der französische Bekannte wohl schon einmal von dem deutschen Wort „Speckgürtel“ gehört hat?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga