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Z Bremy do Gdanska

■ Von Bremen nach Danzig (Teil 2): Ein Bremer Lehrer in der polnischen Partnerstadt / Ein Rundgang mit Günter Grass bei den fernen Nachbarn Von Franz Dwertmann

Man muß die richtigen Zugänge und Wege finden, wenn man eine Stadt wirklich gut kennenlernen will. In Gdansk/Danzig könnte das mit der Straßenbahn gelingen, in Bremen vielleicht eher mit dem Fahrrad. Radfahren in Gdansk aber – das wäre eine Strafe wegen der fehlenden Fahrradwege und ist lebensgefährlich wegen des Autoverkehrs. Da kommt man ins Grübeln, ob abgesenkte Bordsteine ein Luxus sind.

Immerhin gibt es einen wunderschönen Fahrradweg auch in der Stadt Gdansk – neben den idyllischen kleinen Straßen auf dem Lande. Dieser Promenadenweg verläuft fast 10 Kilometer lang parallel zum Strand, entlang der Danziger Bucht: Auf der einen Seite der Blick auf die Ostsee mit den auf Reede liegenden Schiffen, auf der anderen Kiefernwälder, kleine Parks, Erholungsheime und Zeltplätze, ein paar moderne Hotels. Schön ist es auch, diesen Weg direkt am Wasser zurückzulegen, wie Günter Grass es Oskar Matzerath an einem denkwürdigen Freitag mit seinen zwei Vätern und seiner Mutter tun ließ. Am nachhaltigsten ist vielen Lesern der „Blechtrommel“ dabei die Szene in Erinnerung, in der ein Pferdekopf dazu dient, Unmengen von Aalen aus der Ostsee zu holen.

Das war an dem einen Ende jenes Strandweges in der Nähe der Hafeneinfahrt von Nowy Port (Neufahrwasser), heute ein ziemlich verfallener Stadtteil Danzigs. Auf der anderen Seite endet dieser Weg zwischen Sopot und Gdynia an der Steilküste, die die Deutschen früher Adlershorst nannten.

Die Helden von Grass fuhren zu den Badeplätzen an der See mit der Straßenbahn, wie man es dem heutigen Besucher auch empfehlen möchte, z.B. nach Brzezno/Brösen, dem Badeplatz der einfachen Leute. Dort treibt Oskar seine erotischen Eskapaden mit dem Hausmädchen Marie, eine haarige und sprudelnde Sache. Hier spielt auch die „Katz und Maus“-Geschichte der im Krieg heranwachsenden pubertierenden Jugendlichen um Joachim Mahlke.

Grass wollte freilich nicht nur phantastische Geschichten erzählen, in denen Danzig als Paradigma einer kleinbürgerlich-miefig-nationalsozialistischen Welt ironisch seziert wird. Er rekonstruiert die Stadt seiner Kindheit, die es so nicht mehr gibt, aber nun in Grass– Danziger Trilogie literarisch erhalten geblieben ist. Zum Beispiel heißt es in den „Hundejahren“ über jenes Brösen: „Der freundliche Badeort lag mit geducktem Fischerdorf und kuppeltragendem Kurhaus..., mit halbhohen Dünen und dem Strandwäldchen, mit Fischerbooten und dreiteiliger Badeanstalt, mit dem Wachturm der DLRG und dem 48 Meter langen Seesteg genau zwischen Neufahrwasser und Glettkau am Strand der Danziger Bucht. Der Brösener Steg war zweistöckig und zweigte zur rechten Hand einen kurzen Wellenbrecher gegen die Wellen der Ostsee ab.“

Von all dem ist heute nichts mehr erhalten. Aber es gibt Ansätze, das Flair der Vorkriegszeit wieder aufleben zu lassen, während die Insignien der „realsozialistischen“ Zeit gnadenlos beseitigt wurden.

Wir machten uns mit polnischen Germanistik-Studenten auf die Spuren der Helden von Günter Grass: Für die beteiligten Deutschen und Polen eine intensive Art, die im März 45 in Flammen untergegangene Stadt und die heutige Stadt zu erleben und in Beziehung zu setzen. Das schließt deutsch-polnische Verständigungsschwierigkeiten, aber auch bewegende Begegnungen ein (nachzulesen in: Oskar-Tulla-Mahlke. In Gdansk unterwegs mit Günter Grass. Marpress 1993).

Am authentischsten kann man das alte Danzig heute vielleicht noch da erleben, wo Grass selbst aufgewachsen ist: Im unteren Teil von Langfuhr (Wrzeszcz), das im Krieg nicht zerstört wurde und heute das ökonomische Zentrum der Stadt ist. Aber, wie gesagt: Man sollte das alles mit der Straßenbahn „erfahren“, solange niemand Grass' Anregung aus den „Unkenrufen“ aufgreift: „Der Fahrradrikscha, rief Mr. Chatterjee, gehört die Zukunft. Nicht nur im armen Polen, überall in Europa.“

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Grass und Danzig – das erinnert die Bremer an eines ihrer trübseligsten Kulturkapitel: 1961 übte der Senat politische Zensur aus, indem er die Verleihung des Bremer Literaturpreises an Grass verhinderte. Die „Blechtrommel“ war bald weltberühmt, Bremen blamiert. Aber auch in Gdansk ist Grass heute nicht unumstritten – trotz seiner Bemühungen um Verständigung zwischen Polen und Deutschen.

Bremen und Danzig haben eine lange Geschichte miteinander. Erst kürzlich fand man bei der Restaurierung in der Danziger Johanniskirche eine alte Steinplatte aus dem Jahre 1590 mit Bremer Wappen, die eine Grabstätte zieren sollte für alle Bremer Schiffer, die in Danzig sterben würden. Die hanseatische Verwandtschaft führte 1976 dazu, daß Bremen und Danzig die ersten deutsch-polnischen Partnerstädte wurden – mit einem anspruchsvollen Programm.

Wer längere Zeit in Gdansk lebt, muß leider feststellen, daß Bremen dort in der Öffentlichkeit gegenwärtig kaum in Erscheinung tritt. Ab und zu begegnet man ein paar ausgemusterten Bussen der BSAG. Manchmal hängt die Speckflagge gegenüber Artushof und Neptunbrunnen am Langen Markt vor dem „Biuro Handlowy Bremy“, das die Handelskontakte fördern soll. Im Winter findet mal ein Kinder- oder Laientheater aus Bremen (Das rührige und sozial engagierte „Theater 62) nach Gdansk. Wie gern hätte man dort auch einmal etwas von der „großen Kunst“ aus der Partnerstadt gesehen. Dagegen wurde in den Danziger Medien umfangreich über die Hamburger Danzig-Tage 1993 berichtet. Kein Wunder, daß unter den Oberstufenschülern am V. Liceum in Gdansk-Oliwa lediglich fünf Prozent wußten, daß Bremen ihre Partnerstadt sei. Sicher gibt es noch eine Reihe von Kontakten, aber sie finden weitgehend unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt: Pfadfinder treffen sich regelmäßig, Sportler leider immer seltener, die AWO unterhält Beziehungen im Sozialbereich, Professoren der Hochschulen reisen hin und her. Weitgehend also sehr spezielle Treffen, kaum nennenswerte Kontakte der Bevölkerung aus den beiden Städten.

Eine bemerkenswerte Ausnahme stellte im vergangenen Winter der Auftritt des „Bremer Carmina-Burana-Ensembles“ in der Danziger „Opera i Filharmonia“ dar, deren 600 Plätze zweimal hätten verkauft werden können. Eine private Initiative! Das Deutsch-Polnische Jugendwerk unterstützte das Projekt, da sich der Chor überwiegend aus Schülern (Rübekamp und Gesamtschule Mitte) zusammensetzte. Ansonsten ist der Schüleraustausch zwischen Danzig und Bremen – sonst ein Pfeiler jeder Städtepartnerschaft – zur Bedeutungslosigkeit verkommen. Letztes Jahr gab es nur noch eine Begegnung.

Ohne Visa- oder andere formale Probleme scheint es uninteressanter geworden zu sein, nach Polen zu reisen. Zwar gab es noch einige Schülergruppen, die nach Danzig fuhren – aber die wollten keinen Austausch, was eben Übernachtung in polnischen Familien, viele gemeinsame Aktivitäten mit den polnischen Partnern über eine Woche oder länger bedeutet und deren Betreuung beim Gegenbesuch in der eigenen Familie in Bremen.

Die Gründe für die Scheu, sich auf solche Nähe und Verbindlichkeiten einzulassen, sind vielfältig. Eine Klassenreise in die Toscana ist für Schüler und Lehrer ohnehin attraktiver. Aber es hat offensichtlich auch wenig Förderung von seiten der Schulbehörde gegeben. Es gibt auch keine Kontinuitäten, die etwa über Mundpropaganda etc. solche Fahrten attraktiv machen.

Die für Städtepartnerschaften zuständige Senatskanzlei schien in den letzten Jahren weitgehend das Interesse an Gdansk verloren zu haben, und von Bürgermeister Wedemeier weiß man in Bremen wie in Gdansk, daß für ihn diese Städtepartnerschaft keine Herzensangelegenheit ist, wie es sie für Koschnick war. Darüber können spektakuläre Aktivitäten wie die Einladung des Schriftstellers Szczypiorski als Festredner am 3. Oktober und die Forderung einer schnellen Integration Polens in die EU nicht hinwegtäuschen. Im Februar dieses Jahres lag noch nicht einmal eine Planung der Partnerschaftsaktivitäten für das Jahr 1994 vor.

Im übrigen erfährt man von dem zuständigen Referenten der Senatskanzlei telefonisch ganz offen, daß „die Polen“ eigentlich nichts in die Partnerschaft einbringen würden, es sei denn, sie könnten materiell dabei profitieren.

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Tatsächlich gibt es eine objektive Schwierigkeit: Die politischen Repräsentanten der Stadt Gdansk sind nun andere (Entsprechendes gilt auch z.B. für die Kulturszene). Die Bremer Partner sind aber dieselben geblieben – diejenigen, die mit den ungeliebten Parteileuten aus früheren Zeiten zusammengearbeitet haben. Und ganz generell hat sich so vieles in der Stadt, wo einst die Welt verändert wurde, selbst verändert.

Der Danziger Bürger, ehemalige Werftelektriker und heutige Präsident Walesa ist auf der Beliebtheitsskala nach ganz unten gesunken, weit hinter seinen Vorgänger Jaruzelski. Sein ehemaliger Solidarnosc-Mitstreiter Adam Michnik hat ihn kürzlich in „Lettre“ gar als „Meister der Destruktion“ bezeichnet; Solidarnosc ist nur noch ein Mythos; das gewaltige Denkmal vor der „Stocznia Gdanska“ (Danziger Werft, ehemals Lenin-Werft, davor Schichau-Werft) ist zwar ein touristischer Anziehungspunkt, aber Solidarnosc' politische Funktion hat sich erschöpft, als Gewerkschaft findet sie nur schwer ihre Rolle in diesem fragilen polnischen Mechanismus von Marktwirtschaft und Rechtsstaat.

So waren die letzten zwei, drei Jahre zwar von großen Veränderungen gekennzeichnet, aber man hat nicht das Gefühl von gesellschaftlichem Aufbruch. Obwohl Polen günstige Wirtschaftsdaten vorweisen kann, herrscht Skepsis, ob Polen bald das ökonomische Niveau der Randstaaten der EU wie etwa Irland und Portugal erreichen kann.

In einer Großstadt wie Gdansk – die Unterschiede zum Land sind allerdings riesig – gibt es nun alles zu kaufen, aber wer kann sich was erlauben? Die drastische Erhöhung der Mehrwertsteuer im letzten Jahr, der Kaufkraftverlust des Zloty (für eine Mark mußte man im August 92 knapp 8.000, jetzt 16.000 Zloty bezahlen; ab l. Januar l995 werden allerdins vier Nullen gestrichen). Oder die „marktgerechte Anpassung“ der Kosten für Miete, Gas, Wasser, Müll dämpfen den ökonomischen Optimismus der meisten Polen, zumal die Arbeitslosigkeit rapide zunimmt. In den Supermärkten gibt es nun alle aus der Werbung von RTL und SAT 1 bekannten Shampoos; die Waren aus dem Westen verdrängen polnische Konserven und andere einheimische Produkte immer mehr aus den Regalen. „Lila Pause“ und „Omo“ sind inzwischen eingeführt, und damit ist die preisliche Schamfrist auch vorbei.

Selbst in den „Aldi“s von Gdansk, die wirklich „Komm und Kauf“ heißen, sind diese Waren nicht billiger als in Deutschland. So finden sich überall in der Stadt weiterhin jene Kiosks, wo man grüne Bohnen, Rote Beete, Schwarzwurzeln und Milchprodukte noch viel günstiger bekommt, auch Brot und Kuchen in der „Cukiernia“ oder leckere „Kabanosy“ beim Fleischer um die Ecke.

Der Gdansk-Besucher kann inzwischen in vielen Restaurants gut speisen, und das noch für die Hälfte der aus Deutschland gewohnten Preise. Man muß nicht in den weltberühmten „Pod Lososiem“ (Lachs) oder in die großen Hotels zum Essen gehen. In den letzten Jahren hat man in Gdansk oder Sopot in vielerlei Lokalen die Möglichkeit, Zurek- oder Barszcz-Suppe sowie viele andere polnische Spezialitäten zu sich zu nehmen (zum Beispiel im „Skarpowa“). Daneben finden sich Pizzerien, griechische oder vietnamesische Restaurants.

Man muß auch nicht in den relativ teuren Touristenhotels wohnen (wenn auch ein Besuch im Grand-Hotel Sopot bei Kaffee und Szalotka/Apfelkuchen immer lohnt), im ehemaligen Erholungszentrum der Armee (WDW, Sopot) mit seinen schönen alten Villen direkt am Meer kann man für 30 DM ausgezeichnet übernachten.

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Wenn man zwischen Juni und September, um Allerheiligen oder zu Weihnachten viele Autos mit deutschen Nummernschildern auf den Straßen der Dreistadt sieht, so sollte man nicht unbedingt auf einen gewaltigen Touristenboom schließen, hauptsächlich handelt es sich um Aussiedler aus Polen, die ihre Familien besuchen (und den Nachbarn ihre blanken Autos vorführen). Oder es sind Heimweh-Toristen: Ehemalige Bewohner Danzigs, die 1945/46 aus der Stadt flüchteten oder sie zwangsweise verlassen mußten. Seit 1990 kommen sie mit airconditioned Reisebussen, ziehen in Scharen durch die Altstadt, schließen noch Tagesausflüge mit dem Luftkissenboot nach Kaliningrad/Königsberg oder in die Masuren an.

Ältere Damen in ihren zeitlosen beigen Übergangsjacken hört man sich auf der ulica Dluga (Langgasse) über die 3.000 Zloty – 20 Pfennig – entrüsten, die sie im Restaurant der Garderobenfrau entrichten mußten, was für jeden Polen selbstverständlich ist. Danziger Studenten machen ihre Witze über die graumelierten Herrn mit ihren jugendlichen Ringelsöckchen und registrieren deren immer etwas zu lauten, selbstgewissen Unterhaltungston.

Die meisten Polen sehen die deutschen Touristen gern in der Stadt, so wie sie Deutschland als ökonomischen Partner generell schätzen. Und in der persönlichen Begegnung wird jeder dort viel Herzlichkeit erfahren. Dennoch gibt es gegenüber den Deutschen im allgemeinen weiterhin tiefsitzende Vorbehalte, sind sie weit weniger beliebt als etwa Franzosen, Amerikaner und Skandinavier (umgekehrt ist es in Deutschland bezüglich der Polen ja ähnlich).

Zum Beispiel die Vermieterin Teresa Luczak, Logopädin, vier Kinder; ihr Mann ist Lektor. Sie wurde 1944 in Deutschland geboren. Ihre Eltern waren schon 1940 aus Polen nach Westfalen zur Zwangsarbeit geschickt worden, hatten sich dort kennen- und liebengelernt.

Teresas Mutter war damals erst 17 und litt unter der ungewohnten Arbeit bei herrischen Bauersleuten. Dem Vater gefiel es als Geselle bei einem deutschen Bäcker ganz gut, weil der deutsche Lehrling ihn respektieren mußte, er – trotz offiziellen Verbots – am Familientisch mitessen und mit dem Fahrrad zu seiner Freundin und zukünftigen Frau fahren durfte. Seine beste Zeit, sagt er, während seine Frau und Teresa bis heute darunter leiden, daß er deutsche Volkslieder und Schlager von damals pfeift und singt. Erst 1947 konnten sie wieder zurück nach Polen. Teresa hat einige gute deutsche Bekannte, aber sie möchte nie wieder dorthin. Ihr Mann sagt, das seien alte Geschichten. Fortsetzung von Seite 22

Polen und Deutsche sollten gemeinsam nach vorne schauen (“Warum interessiert ihr deutschen Intellektuellen euch hauptsächlich für die KZ's und die Nazi-Zeit?“).

Von sich aus sprechen die meisten Leute nicht über die Schrecken der deutschen Besatzung; aber wenn man länger dort lebt, kommt das Gespräch immer wieder darauf. Keine Familie, in der es nicht furchtbares, von Deutschen bewirktes Leid gegeben hat. Auschwitz war der Höhepunkt, doch in Danzig wird das systematische Vorgehen der Ausrottungspolitik von Anfang an sichtbar: Als der Krieg hier begann, waren die Listen für 2.000 polnische Persönlichkeiten und „unzuverlässige Deutsche“ fertig. Sie mußten das eigene KZ (Stutthof) aufbauen.

Schon in den ersten Monaten der Besetzung sollte Danzig-Westpreußen „polenfrei“ werden. So entledigte man sich zuerst der Intelligenz, um die Widerstandskraft des polnischen Volkes zu brechen: In den Wäldern von Piasnica, nordwestlich von Danzig, liegen die Gräber von 12.000 systematisch erfaßten und erschossenen polnischen Lehrern, Ärzten, Ingenieuren, Priestern.

So kann man verstehen, welche Bedeutung dieser eine Satz des deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog anläßlich des 50. Jahrestages des Warschauer Aufstandes für die Polen bedeutete: Auf dieses „Ich bitte um Vergebung“ haben sie unendlich lange gewartet.

Bei den polnischen Jugendlichen sind diese Schicksale ihrer Angehörigen viel stärker präsent als es etwa die gefallenen Großväter bei den deutschen Jugendlichen sind. Dennoch erlebt man sie als unvoreingenommen und aufgeschlossen. Man sollte sich aber keinen Illusionen hingeben, daß alle Stereotype überwunden wären (wie sie ja auf deutscher Seite auch immer wieder erschreckend sichtbar werden). Dem taz-Korrespondenten Klaus Bachmann ist nur zuzustimmen, wenn er schreibt, daß man nicht voreilig und bei jeder Begegnung von Verständigung oder gar Versöhnung sprechen sollte (“Versöhnungskitsch“). Viel wäre gewonnen, wenn man sich erst einmal „kennenlernen“ würde.

Wie schnell die Ängste und alten Schrecken mobilisiert werden, wurde schlagartig angesichts der ausländerfeindlichen Aktionen während der letzten beiden Jahre in Deutschland deutlich. Besonders wenn man in einem solchen Ausland gelebt hat, wo die Bedrohungen konkret erfahrbar werden, wird einem das katastrophale Ausmaß der Vorkommnisse in Solingen oder anderswo deutlich. In den polnischen Zeitungen wurde alles dies genauestens registriert.

Wie beschämend, von polnischen Schülern hören zu müssen, was ihre Geschwister in Berlin an Beschimpfungen erlebt haben, daß dem Onkel auf die Windschutzscheibe ein Zettel geklebt wurde: „Hau ab, Pollacke“, daß es zerstochene Reifen oder Terror auf der Autobahn gab. Joanna, Deutschlehrerin am V. Liceum, hatte geplant, im letzten Sommer nach Deutschland zu reisen. Trotz aller Beschwichtigungen befürchtete sie aber dann, daß sie als Polin identifiziert werden könnte und sich einer entwürdigenden Situation gegenüber sehen könnte.

Rechte, nationalistische Tendenzen findet man übrigens unter den Danziger Jugendlichen auch. An die großen Wohnblöcke gemalt, sieht man Sprüche wie „Poland only for whites“, und neben den grellen ACDC- oder anderen Pop-Graffitis steht am V. Liceum gesprüht: „Polska dla Polakow“ (Polen den Polen). An dieser Schule gibt es auch eine Gruppe von polnischen Jungen mit Bürstenhaarschnitt, Springerstiefeln, militärischer Kleidung und provokativen rechten Sprüchen. Sie sind jedoch in ihrer Klasse nicht isoliert, haben ihrerseits auch nichts Fanatisches. Es scheint, daß sie weiterhin sozial integriert sind und damit vermutlich seltener in den Rechtsextremismus abdriften.

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Die Orientierungen der polnischen Jugendlichen repräsentieren eher die 22jährigen Germanistik-Studentinnen Lidia und Zofia: nationalbewußt aber weltoffen, katholisch aber liberal, familienverbunden aber selbständig. Sie sind viel auf Reisen, auch wenn ihr Au-pair-Jahr in Deutschland nicht typisch ist. Auch nicht, daß sie zusammen eine 2 1/2-Zimmerwohnung mieten können, während die meisten polnischen Studenten im Wohnheim oder zu Hause wohnen. Sie gehören zu einer Gruppe von StudentInnen, mit denen wir ein Projekt „Danzig 1944 – Gespräche nach 50 Jahren“ durchführen.

So lernen wir zwei deutschen Dozenten die jungen Polen auf ungewöhnlich intensive Weise kennen, die wiederum eine ganz ungewohnte, weil gleichberechtigte Zusammenarbeit mit Lehrern und wir gemeinsam die Plätze, Bibliotheken, Archive, Publizistik der Stadt – und vor allem jene Menschen, die die Erinnerung an das alte Danzig aufbewahren, sowie deren heutige Lebensumstände.

Heute, da die ehemals überwiegend deutschsprachige Stadt eine vollständig neue – polnische – Einwohnerschaft hat, war es fast die letzte Chance, die damalige Wirklichkeit der Stadt in Interviews und Gesprächen festzuhalten: Wir fanden Deutsche und Polen in Gdansk und Norddeutschland, die immer noch der Stolz auf die eigene Staatsbürgerschaft der „Freien Stadt Danzig“ verband.

Aber 1944 waren das relativ friedliche Miteinander der deutschen Mehrheit und der polnischen Minderheit sowie jene ungewöhnliche Konstruktion des Freistaates längst passee. Danzig war eine nationalsozialistische Stadt, in der der 2. Weltkrieg zwar begonnen hatte, aber der Krieg war noch nicht zurückgekehrt. Äußerlich war es noch das alte Danzig. Während die anderen deutschen Großstädte schon im Bombardement der Alliierten untergingen, in Warschau der verzweifelte Aufstand stattfand und nicht weit östlich von Danzig Hitler in der Wolfsschanze dem Attentat entkam, wollten viele in Danzig von all dem nichts mitgekriegt haben, kam ihnen noch „alles ziemlich normal“ vor.

Für die polnischen StudentInnen von heute ist diese „Normalität“ des NS-Alltags, von dem die 40-60 Jahre alten freundlichen und offenen Damen aus Hamburg berichten, schwer vorstellbar: Z.B. die Vereinbarkeit von Kirche und BdM, die Pünktlichkeit der Straßenbahn, die „knappe, aber ausreichende Versorgung“. Sie werden aber auch konfrontiert mit in Polen lange Tabuisiertem, z.B. daß es vor dem Krieg keine wirklich gemischte deutsch-polnische Stadt war, daß 1939 mit den Polen Danzigs auch die deutschen Linken der Stadt ins KZ Stutthof kamen.

Sie erfahren, daß 1944 die deutsche Wirklichkeit des damaligen Danzig so differenziert war wie die ihrer heutigen Gesprächspartner und deren Umgang mit ihrer ehemaligen Heimat: Nüchtern-sachlich, präzise berichtet der 90jährige Reeder aus Lübeck über das Funktionieren seines kriegswichtigen Betriebes; engagiert und wichtig die 25 Jahre jüngeren Männer, damals Flak-Helfer und Hitlerverehrer, heute Versöhnungsaktivisten; offen und patent die Frauen, die das Leben der Stadt damals aufrecht erhielten und deren Lebenspläne zum Teil brutal zerstört wurden.

Am größten war das Erstaunen immer bei den konkreten Dingen: Wenn die alten Leute uns ihre ehemaligen Häuser zeigten, wenn sie erzählten, daß die Hauptstraße (heute Grunwaldzka) damals Adolf-Hitler-Straße hieß und das V. Liceum Hermann-Göring-Schule hieß, wenn man unter dem abblätternden Putz eines Hauses das Wort „Kolonialwaren“ entziffern kann.

Eigenartig kommen besonders wir Deutsche uns in den bequemen Ledersesseln des bildungsbürgerlichen Wohnzimmers der temperamentvollen 72jährigen Frau Brzezinska vor. Die Sessel hat sie von der Entschädigung für ihre Zeit im KZ Stutthof gekauft – gebraucht. Sie zitiert Rilke, spricht in fließendem Deutsch über den Verrat ihrer Aktivitäten für die Kuriere der polnischen Heimatarmee, die von Danzig/Gdingen nach Schweden kommen mußten.

Pawel Lewandowicz hat noch die Jovialität eines Facharbeiters auf der Werft, wenn er über die Unmöglichkeit der Sabotage beim U-Boot-Bau erzählt. Wir treffen ihn an einem der folkloristischen Nachmittage bei der deutschen Minderheit. (etwa 3.000 deutschstämmiger Familien in Nordpolen).

Hanna Bronska gehörte auch zu den wenigen Polen, die vor 50 Jahren noch in Danzig über-lebten. Mit ihrer schwerkranken Mutter, die die Nachbarkinder draußen „Polacksche, Polacksche“ beleidigten, wohnte sie in einem Durchgangskeller. Aber 1944 kam auch schon eine deutsche Frau auf die heute 72jährige, noch praktizierende Augenärztin zu mit denselben Worten wie Roman Herzog sie 50 Jahre später offiziell gegenüber dem polnischen Volk sagte.

Unsere deutschen, polnischen und deutsch-polnischen Gesprächspartner treffen nur in einem Buch zusammen. Ihre Lebenswelten sind auch heute weit voneinander entfernt – wie vor 50 Jahren: Die Polen waren 1944 überzeugt, Gdansk würde (“wieder“) polnisch, was für alle befragten Deutschen damals noch unvorstellbar war. Wir haben bei dieser Arbeit mit den Studenten, wie auch im Schulalltag, eine bildungsbewußte und neugierige polnische Jugend kennengelernt, denen man entsprechende Partner westlich der Oder und speziell auch in Bremen wünscht. Wenn diese Generation sich näherkommen soll – und vermutlich näherkommen muß, wird man die Differenzen nicht übersehen können und berücksichtigen müssen.

Bald wird zwar in Bremen und Gdansk das Warenangebot weitgehend ähnlich sein, aber Allerheilige und Weihnachten, den Nationalfeiertag und das Abitur wird man dort noch lange anders begehen als hier.

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