Wollreste und Wurststullen

■ »Priorter Briefe« — ein lichtbildgestützter Vortrag im Kulturhaus Peter Edel

Beim Konsum keine Tante

Beim HO keine Verwandte

Aus dem Westen kein Paket

Und da fragen Sie noch, wie

es mir geht

Im ersten Stock des Kulturhauses Peter Edel in der Klement-Gottwald-Straße winken zwei Fähnchen über einer Dialeinwand. Das eine ist blau, ein altes FDJ-Winkelement, das andere rot. Vor der Leinwand blickt schwarzweiß und gerahmt Walter Ulbricht hinüber zum schönsten bunten 60er-Jahre-Plakat mit Willy Brandt, der braungebrannt mit Mandoline und Zigarette irgendwo im Urlaub unter einem roten Coca-Cola-Sonnenschirm hoffnungsfroh der 70er Jahre harrt. Inmitten des Bühnenbildes sitzt Regine Walter-Lehmann am Pult. Die Ex-Pionierin, -Priorterin, -Dramaturgin, -taz-Redakteurin stellte eine Auswahl von Briefen vor, die ihre Ostoma zwischen dem 13.8.61 und dem 29.4.63 von Priort, einem Dorf in der Nähe von Nauen, gen West gesandt hatte. Parallel zu den Texten sieht man Priorter Schwarzweißdias: merkwürdige, von Mauern umrahmte Lauben, Feldwege, Dorfidyllen. Gertrud Krause in der Küche zwischen Frauen in den besten Jahren, die dem Fotografen stolz das gemachte Essen in Töpfen und Porzellanschüsseln entgegenhalten. Junge Frauen, die zu viert im Grünen nebeneinandersitzen und der jeweils nächsten die Hände auf die Schultern legen. Seltsame Ästhetik des Vergangenen.

»Bis der junge Staat zu Gertrud Krauses und ihrer Verbündeten Schutz einen Wall errichtet, unterschreibt Gertrud Krause nur Beileids- oder Gratulationskarten. Vom 13.8.61 bis zum 29.4.63 schickt sie mehr als 500 Vor-Ort-Berichte in den Westen.« Die Mauer hatte andere Kommunikationsformen entstehen lassen: aus Verwandtschaften oder Freundschaften wurden Brieffreundschaften, selbst wenn die Brieffreunde sich ab und an auch besuchen konnten. Brieffreundschaften entstehen dort, wo zwei Welten ihre Alltäglichkeiten, ihre Sprache und ihre Tauschformen unabhängig voneinander entwickeln. Die Unterschiede, ob sie nun system- oder zeitbedingt oder ob sie nur mit dem Alter der Briefeschreiberin zu tun haben, vermag man vielleicht erst retrospektiv, bei der Vorstellung von alten Briefen »fremder Leute« (wie man so besorgt immer in der Kleinfamilie sagt) erkennen. So hat es vielleicht nur mit dem Alter zu tun, daß das Ich verschwindet, selbst wenn es klagt. Oft wird es verschluckt: »Habe gestern mit großer Freude Deinen lieben Brief erhalten«, »habe recht schönen Dank für alles«, manchmal verwandelt es sich ins Allgemeine: »Man muß sehen, wo man bleibt«, und oft taucht anstelle des Ichs die soziale Funktion der Briefeschreiberin in der Unterschrift wieder zärtlich auf: »Viele Grüße von Eurer lieben Omi aus Priort.« Schön sind in der Vorstellung der Briefeschreiberin vor allem die erhaltenen Botschaften: Zu Beginn jedes Briefes dankt sie für »Euer liebes Päckchen« und auch »den lieben Brief«.

Briefe und Päckchen haben manchmal etwas Archaisches, sie sind wie Gaben, die man in eine andere Welt schickt. Die Absenderin hofft auf die Gegengabe und schickt: Mus, Kirschkuchen, alte Bademäntel, Marmelade, »Wollreste und zwei Stullen mit Wurst«, nach deren Verbleib sich im nächsten Brief erkundigt wird: »Wie haben Euch denn die Stullen geschmeckt?«

Damit sie auch ordentlich in der vielleicht besseren Welt ankommen, damit sie angenommen werden, brauchen die Briefe und Päckchen Mittler, zwielichtige Dämonen, die unter den Gaben diejenigen aussortieren, die den Göttern nicht genehm sein könnten. Manchmal werden die Dämonen mehr oder minder direkt angesprochen und beschwichtigt: »Daß sie die Briefe öffnen, ist ja gerade nicht schön... Na ja ich schreibe ja nichts Besonderes, das können sie ruhig lesen, wenn sie daran Spaß haben«, manchmal werden sie gelobt: »Ich staune selbst immer, daß es so schnell geht«, manchmal wird ihnen laut flüsternd versichert, daß alles seine Ordnung habe; der Nachbarin, die ihr ein wenig Westkaffee oder -kakao abkaufen will, sagt sie immer gleich die richtige Antwort: »Ich habe doch keine Handelsware, sie können bei mir eine Tasse trinken, aber nicht mehr.« Leise flüsternd mit Einschränkung — für die Prüfer, denn »Onkel Max« könnte sie ja auch verloren haben — fragt sie, ob auch alles in Ordnung sei: »Hast du meine Briefe alle bekommen, einen vom 10., 11., 12., 17.?« Manchmal bricht die Furcht durch — man müsse sehr vorsichtig sein —, und manchmal triumphiert keck die Benennung über die zunächst noch vorsichtige Anspielung: »Nur die gewissen Herren tragen die Nase hoch und denken, was kann mir denn schon passieren, wie Herr Billau, Herr Kerraschk, Frau Heuer...«

Regine Walter-Lehmann ordnete die geerbten Briefe unter genuin sozialistische Themata. In der Rubrik »Kampf dem Klassenfeind« findet sich folgender Satz: In bunten Scharen kommen die Raubvögel, und »es ist einfach zum Heulen... Gipner macht ja immer eine rote Farbe im Baum, das nützt auch nichts«.

Vor ein paar Monaten waren die Briefe schon einmal im Rundfunk vorgestellt worden. Sie fanden ihren Weg über den Äther zurück zum Ort des Empfängers, ins Priorter Bürgermeisterzimmer, wie alles seinen Weg findet in die dörflichen Amtsstuben. Vor Ort, im Priorter »Weinberg«, will Regine Walter-Lehmann die Briefsammlung, in der man nicht nur vom Leben der Gertrud Krause erfährt, sondern einiges mehr über Ost-West, die 60er Jahre und über das Briefeschreiben, demnächst präsentieren. Detlef Kuhlbrodt