Wolfsburg in der Champions League: Publikum mit Sehnsucht nach Magath
Vor dem größten Spiel der Klubgeschichte gegen Manchester United hadert man in Wolfsburg mit dem neuen Ballbesitzfußball von Trainer Armin Veh.
Der Angreifer war Porsche. Aber Volkswagen konterte das Stuttgarter Unternehmen aus - und nicht umgekehrt. Die VW-Tochter VfL Wolfsburg konterte derweil die Bundesliga aus. Beides kam für Manager wie Montagearbeiter in Wolfsburg letztlich überraschend. Nun wird Porsche zehnte Marke des VW-Konzerns, und der VfL muss die deutsche Meisterschaft verteidigen. Eine völlig neue Situation, in der die mentale Infrastruktur nicht mehr mitkommt, weil der Orientierungsapparat im Menschen noch auf gestern fixiert ist.
Warum, fragen die Kritiker des Trainers, Managers und Geschäftsführers Armin Veh, kontert der VfL seine Gegner nicht einfach weiter aus, wie er es unter Felix Magaths Anleitung im Vorjahr perfektioniert hatte? Tief stehen, langer Ball, Dzeko, Grafite, bum, bum, bum.
Tja, das geht nicht mehr, sagt Veh seit dem ersten Tag. Im Vorjahr agierten einige Gegner sogar in der VW-Arena offensiv, heute stehen fast alle tief. Weil sie, z. B., wissen, was passiert, wenn man dem Vorjahrestorschützenkönig Grafite den Platz lässt, den er braucht. Veh muss also intern und extern klarmachen, "dass das Erfolgreiche aufgrund des Erfolges nicht mehr geht und geändert werden muss". So was ist nicht einfach. Am vergangenen Samstag musste das Team den neuen Fußball nicht nur gegen den SC Freiburg durchsetzen, sondern gegen ein murrendes Publikum.
An diesem Tag sitzt Veh in einem Kabuff der Arena und sagt: "Unser Spiel hat sich geändert, weil es sich ändern muss." Theoretisch dürfen sich beide Teams hinten reinstellen. Ja, sagt Veh: "Aber dann findet kein Spiel mehr statt." Und damit sind wir beim zweiten Grund, warum der VfL so spielt, wie er spielt: weil Veh will, dass ein Spiel stattfindet. Und zwar so, wie er sich Fußball vorstellt. Also Ballbesitzfußball mit vielen schnellen Kurzpässen und dem Ziel, viele Chancen herauszuspielen und letztlich "sein Spiel" durchzusetzen. Dabei ergeben sich zwei Herausforderungen: Man muss den neuen, riskanteren Fußball so viel trainieren, dass er sich automatisiert. Und: "Du musst die Spieler auch im Kopf hinkriegen, denn im Vorjahr waren sie ja erfolgreich mit der Spielweise."
Veh, 48, ist jetzt fünf Monate in Wolfsburg. Hat von VW seinen Touareg zugewiesen bekommen und ein Haus. Und lebt richtig dort. In seiner Heimatstadt Augsburg war er seither genau zweimal. Er ist seit 19 Jahren Trainer. 2007 katapultierte ihn der maximale Erfolg in die erste Trainerreihe: eine Meisterschaft mit dem VfB Stuttgart. Es folgte Platz 6 und im November 2007 der Abschied - da lag der VfB auf Platz 11.
Veh sieht die Fortschritte: Die flüssiger werdenden Kombinationen, die Torchancenquote, das bessere Handling der gestiegenen Anforderungen an das Defensivverhalten. Kurz spielen, schnell spielen, ein, zwei Kontakte: "Die Spieler haben es jetzt im Kopf", sagt er. Die Kritiker verweisen auf die Heimbilanz in der Liga (drei Niederlagen in acht Spielen), die Negativserie gegen die Aufsteiger Mainz (3:3), Nürnberg (2:3) und das extrem schwache Freiburg (2:2), die desaströse Gegentorzahl (27). Auch die gute Auswärtsbilanz (3/3/1) wird als Indiz dafür gewertet, dass ein tiefer stehender VfL ein erfolgreicherer sei.
Die Zwischenbilanz ist im Grunde solide. Im Vorjahr lag der VfL als Achter nach dem 15. Spieltag mit 23 Punkten 11 Zähler hinter Tabellenführer Hoffenheim. Nun ist man mit 23 Punkten wieder Achter, 8 Punkte hinter Leverkusen. Zudem hat man eine ansehnliche erste Teilnahme an der Champions League hingelegt. Am heutigen Dienstag (20.45 Uhr) kann man sich für das Achtelfinale qualifizieren. Die Europa League ist bereits sicher. Der Gegner heißt Manchester United. Ob man heute drei Punkte braucht oder gar eine Niederlage reicht, hängt davon ab, wie das punktgleiche Moskau in Istanbul spielt. Auch wenn Manchester bereits qualifiziert ist, könnte man - ohne handelsübliche Übertreibung - vom größten Spiel der Klubgeschichte sprechen.
Dass die Stimmung in Stadt und Stadion dem All-Time High nicht entspricht, liegt nicht nur an dem üblichen Ge- und Missbrauch von Fußballtrainern als Medien- und Gesellschaftszeitvertreib. Es offenbart auch Orientierungsprobleme wegen einer ungeklärten Identitätsverschiebung: Wer sind wir denn nun? Gerade noch ein Fußball-No-Name. Dann nahm der damals neue VW-Chef Martin Winterkorn die geschaffenen Strukturen (u. a. neues Stadion, 100-prozentige Übernahme des Clubs durch VW) als Grundlage, um Ernst zu machen: Felix Magath bekam die Lizenz und das Scheckbuch, um durchzustarten.
Das erklärt, warum die verhalten geführte Trainerdiskussion übliche Elemente enthält, etwa das angeblich "lasche" Training Vehs, grundsätzlich aber eine unübliche, weil rückwärtsgewandte ist. Eine, in der sich Sehnsucht nach Magath ausdrückt. Vereinzelte Teile des Publikums stimmten am Wochenende beim Stand von 1:2 bereits "Armin raus!" an. Das geduldige Kombinieren und Lauern auf die Lücke hat das Team jetzt drauf - das Publikum noch nicht. Das ist nicht wie in Barcelona, wo man diese Fußballkultur mit der Muttermilch eingesogen hat.
"Es ist halt so, wie es ist. Überall", sagte Veh am Samstag. Er versucht, den Eindruck zu erwecken, als könnten das "Geschäft" und dessen Unkulturen ihn weder überraschen noch treffen. Wenn er eine neue Krawatte habe, sagte er unlängst der lokalen WAZ, würden die Leute sagen, dass die Krawatte von Magath aber schöner gewesen sei. Er benutzt Ironie auch als Ventil. Er mag sie. Vom Fußballpublikum generell kann man das nicht sagen.
Offizielle Saisonziele waren und sind Platz 5 und eine dauerhafte Etablierung als deutsches Spitzenteam. Acht - oder mit Stuttgart neun - Klubs streiten darum, zu den neuen nationalen Top Five zu gehören. Aber nach dem größten Triumph und der maximalen Werbewirkung für VW ist die Etablierung auf hohem Niveau schwer als Erfolg zu verstehen. Und vor allem auch schwer zu fühlen. Sich on dieser Situation durchzusetzen, das ist einer von Vehs Standards, das sei die Herausforderung.
Letztes Jahr hatte der VfL eine Rückrunde mit 14 Siegen. Er hatte zwei Stürmer, die 54 Tore (Grafite 28, Dzeko 26) schossen. Er habe dabei neben Teams wie Cottbus mit den wenigsten Ballbesitz gehabt, sagt Veh. Das sei alles "nicht normal" gewesen. Was ist normal? "Normal ist es schon so, dass du mehr Ballbesitz brauchst als der Gegner, wenn du oben stehen willst." Es sei denn, man führt stets früh so klar, dass man den Gegner kommen lässt. Normal ist es für ihn, "dass die Wahrscheinlichkeit höher ist, dass ich ein Tor mache, wenn ich mehr Chancen herausspiele". Selbstverständlich auf der Grundlage, dass die Defensive funktioniert. Es sei eine Frage, wie man "den Fußball denkt". Armin Veh denkt ihn so. Aus seiner Sicht ist das vollkommen schlüssig. Von außen betrachtet ist es ein faszinierender Prozess. Ein Sieg gegen ManU würde ihn befördern. Andererseits wird Veh sein Team heute tiefer stellen. Es werden wenige Chancen genügen müssen. Haut das hin, werden die Kritiker sagen: Eben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid