Wolfgang Niedecken zum 60.: BAP heißt Vater
Jahrelange Sprachlosigkeit, und dann ist der Alte tot. Wolfgang Niedecken führt das große Versöhnungsgespräch mit dem Vater ohne den Vater. Heraus kommt BAP.
An diesem Morgen im März sitzt Wolfgang Niedecken auf einem Sofa im Frühstücksfernsehen von Sat.1 in Berlin-Friedrichshain nahe der Oberbaumbrücke. Die Werbung wird unterbrochen, der Moderator wendet sich ihm zu und sagt salopp: "Tja, verdamp lang her."
An dem Einstieg hat er sicher lange gefeilt. Und damit ist für ihn offenbar auch alles gesagt. Am unteren Bildschirm erscheinen die Einblender "35 Jahre BAP", "Songschreiber", "engagiert sich seit Jahren für Afrika" und "wird am 30. März 60." Niedecken liefert dazu sehr freundlich die kurzen Wortbeiträge, die erwartet werden. Zur Belohnung lässt man ihn mit Band zwei Stücke vom neuen Album "Halv su wild" live spielen. Unglaublich, aber es groovt.
Vier Tage vorher hat er in Leipzig bei der Buchmesse seine Autobiografie vorgestellt. 528 Seiten. Darunter macht er es nicht. Abends ist er im Centraltheater in der Bosestraße, diskutiert mit einem befreundeten Journalisten und musiziert zwischendurch. Solo. Akustikgitarre, Mundharmonika. Er hat sich optisch als Mischung aus Bob Dylan und Neil Young auf dem "Freedom"-Cover modelliert. Spielt den Kinks-Song "Celluloid Heroes", kommt ins Krächzen, stoppt, sagt locker: "Moment, das geht besser." Und spielt die Passage noch mal. Besser.
30. März 1951: Wolfgang Niedecken wird als Sohn von Josef und seiner zweiten Frau Tinny Niedecken geboren, die im Severinsviertel in der Kölner Südstadt einen Lebensmittelhandel betreiben (Severinstraße 1).
10. September 1982: Das BAP-Album "Vun drinne noh drusse" verdrängt das BAP-Album "Für usszeschnigge!" von Platz 1 der Charts. Im Sommer 82 spielen BAP bei der Demo gegen die Nato-Nachrüstung am 10. Juni in Bonn, im Vorprogramm der Rolling Stones am 4. und 5. Juli in Köln und als erste deutsche Band im WDR-Rockpalast am 28. August auf der Loreley.
30. März 2011: Wolfgang Niedecken wird 60. Seine Autobiografie "Für ne Moment" (Hoffmann und Campe) erscheint, und das 17. Studio-Album von BAP: "Halv su wild".
Als Zugabe liest er aus seinem Buch die Passage über sein Verhältnis zu seinem Vater. Es ist die All-German-Nachkriegsgeschichte des Jungen, der wissen will, warum der Alte Parteimitglied war, warum er alles geschehen ließ, wie es zu Auschwitz kommen konnte. Der Alte erzählt ihm von den Versailler Verträgen und dass die schuld waren, dass Hitler an die Macht kam. Danach die Vorwürfe hier. Das Schweigen dort. Anschwellende Wut des Jungen. Jahrelange Sprachlosigkeit. Und dann ist der Alte auch schon tot.
Ging ja immer um alles, damals
Er führt das große Versöhnungsgespräch mit dem Vater ohne den Vater. Und dann macht er daraus im kölschen Idiom mit der Hilfe eines treibenden Licks des Gitarristen Klaus "Major" Heuser den Hit des Jahres 1982 und einen zentralen Song der deutschen Nachkriegsgeschichte: "Verdamp lang her". Damals wusste aufgrund der Sprachbarriere außerhalb Kölns kaum einer, worum es genau ging. Aber jeder spürte: Es ging um alles.
Ging ja immer um alles, damals. Wenn man das Buch gelesen hat, wenn einem wieder einfällt, dass "Bap" Vater heißt, dann kann man den Song nur als Schrei nach Entschuldigung oder gar Vergebung deuten - eines Jung-68ers, der seinen Mitläufer-Nazi-Vater mit seiner Selbstgerechtigkeit komplett überforderte.
"Ich war 1968 siebzehn und ungeheuer selbstgerecht", sagt Niedecken. Und wie leid ihm sein Verhalten getan habe. Hat er mit "Verdamp lang her" schon früh seinen Frieden gemacht? "Mit meinem Vater ja, aber nicht mit der Tätergeneration", sagt Niedecken.
Der Frückstücksfernsehen-Auftritt ist vorbei. Er ist in einem quasselnden Menschenpulk den Gang vom Studio runtergekommen, aber man hat ihn sofort herausgehört. Jetzt sitzt er in einer Art Wartezimmer des Senders auf einem roten Sofa, wirkt sehr ausgeschlafen und prächtig gelaunt. Nicht dass er die Sendung selbst ankucken würde. Aber die Betreuerin ist aus Unkel, "wo mein Vater herkommt". Also okay.
Der Vater war Jahrgang 1904, Bauernjunge, er schuftete als Lebensmittelhändler in der Kölner Südstadt in seinem kleinen Laden. Damit der Sohn es mal besser haben sollte. In der Autobiografie beschreibt er bei aller Enge und Verklemmtheit seine Kindheit als ziemlich schön. Die historische Aufbauleistung dieser Generation bewundert er. Dass er im Internat durch einen katholischen Priester misshandelt und sexuell missbraucht wurde, hat er abgehakt. Andere hätte es schlimmer erwischt. Den Vater rekonstruiert er als hilflosen Gefangenen von Herkunft und traumatischer Kriegsjahre. Man tritt ihm nicht zu nahe, wenn man annimmt, dass aus dieser Erfahrung sein eigenes Vatersein eine zentrale Lebensfrage wurde.
"Köln ist grade mal 2.000 Jahre alt"
Er lebt mit seiner zweiten Frau und zwei Töchtern, dazu kommen zwei erwachsene Söhne aus der ersten Ehe. "Am wohlsten fühle ich mich, wenn ich mich als Familienvater definiere", sagt er. Er sieht sich als eine Art Paterfamilias. "Die Kinder wissen, dass ich loslassen kann, aber immer dastehe und kucke, ob auch alles klargeht." Spricht er von der Vergangenheit, ist "wir" die "Generation, die von Vietnam politisiert wurde". Spricht er in der Gegenwart, gibt es kein größeres gemeinsames "wir" mehr. "Da meine ich erst mal meinen kleinen Mikrokosmos."
Er kann sich immer noch in Rage reden, dass man aus der Atomkatastrophe von Tschernobyl nichts gelernt hat, über die menschliche Gier, über die "merkwürdigsten CDU-Atomhardliner wie Mappus, die auf einmal Kreide gefressen haben". Das Zeug strahle noch 200.000 Jahre im sogenannten Endlager, "200.000 Jahre", sagt er, "Köln ist grade mal 2.000 Jahre alt." Und ob diese Leute keine Kinder und Enkel hätten.
Wenn die These des Journalisten Kurt Kister stimmt, sind die deutsche Schuld, die deutsche Einheit und die Atomkraft die drei zentralen Fragen unserer Nachkriegsgeschichte. Auf der einen Seite mag Niedeckens Leben so gesehen repräsentativ sein für Anfang der 50er Geborene. Auf der anderen ist er solitär, weil er sichtbar dabei war und manches auch beeinflusst hat. In Bonn spielte er 1982 vor 500.000 gegen die Nato-Nachrüstung. In Wackersdorf spielte er gegen Atomkraft. In der DDR kam es zum Eklat, als er schon in Berlin (Ost) war und einen Auftritt wieder absagte.
Nicht zu vergessen: Mit einer "Hobbyband", wie er zu sagen pflegt, spielte er sich an die Spitze der Charts, der Bewegung und in die unmittelbare Nähe der von ihm verehrten Rock-'n'-Roll-Götter. Er sang mit Springsteen und Ray Davies. Und Mick Jagger sagte "What the hell is this?", als er ins Stadion kam und sein Publikum bei einer Vorband ausrasten sah. Das war BAP. Niedecken ist ein Geschichtenerzähler. Er hat auch diese Geschichte bestimmt schon tausendmal erzählt, aber sie ist halt einfach gut. Und ist nicht alles erst so verdammt kurz her?
Im neuen Song "Chlodwigplatz" idealisiert er seine jungen Jahre im Mikrokosmos der Kölner Südstadt und diesen "Nabel der Welt". "Vergess Babylon" ist ein Plädoyer für die Vielfalt der Sprachen und Dialekte: Der Herrgott hat bei der Welterschaffung allen Stämmen eine eigene Sprache gegeben und ist am Ende so müde, dass er den übriggebliebenen Kölnern sagt, sie sollten einfach Gottes Sprache übernehmen: also Kölsch.
Der heilige Severin von Köln
Ein grandioser Song, übrigens. Wenn man Niedecken richtig interpretiert, hat er nie gegen Köln gekämpft, diese irrste Stadt der Welt. Eher für eine mildere Form von Irrsinn. Er hat irgendwann gemerkt, dass er ohne seinen Dialekt nicht er ist - und BAP ohne Kölsch sinnlos wäre. Zumindest für ihn. Der Major sah das anders, aber der ist inzwischen auch schon zwölf Jahre weg. Wie genau anders er die Sache sieht? Wäre spannend, aber er sagt, er wolle sich nicht äußern.
Seinen ersten Sohn nennt Niedecken Severin. Nach dem heiligen Severin von Köln. "Die Idee kam mir in Paris, in der rue Saint-Séverin", sagt er. "Da dachte ich: "Moment, eigentlich ist das ein Hammername." In Manhattan in einem Deli erkennt er den Laden seiner Eltern wieder. Alle Wege führen nach Köln zurück. "Ich habe mich nie von meinen Wurzeln distanziert", sagt er, "auch nicht in Zeiten, wo das als provinziell rüberkam."
Sprunghaftigkeit kann man ihm in der Tat schwer vorwerfen. Während die einen ihre politischen Sehnsüchte in ihn projizierten, kotzten die anderen ab, wenn er sich wieder für was engagierte. Mit Bundespräsident Köhler nach Afrika? Widerlich. Den Dritten fehlte die Subtilität in der Musik und im Erscheinen. Die Vierten störten sich in den 90ern ästhetisch daran, dass er immer noch etwas wollte, obwohl man nichts mehr wollen durfte. Und speziell Musikjournalisten halten es seit Jahrzehnten im Kopf nicht aus, wenn er mit Bob Dylan daherkommt.
"Ja, aber ich kann doch nicht auf einmal den 25.000sten Nachfolger von Dylan gut finden, meine Wurzeln sind da", sagt er da. Wenn ihn 1980 jemand fragte, was seine Lieblingsbands seien, sagte er: "Beatles, Stones, Kinks, Dylan, Ende." Und heute sagt er das immer noch.
Sie sagten zu ihm: "Sag das doch nicht immer, sei doch mal ein bisschen hip." Er sagte: "Was soll denn der Scheiß?" Wellenreiter hat er schon 1982 in dem gleichnamigen - von den Kinks inspirierten - Song abgelehnt. Seine Autobiografie heißt "Für 'ne Moment" nach einem BAP-Titel. Er wurde auf dem Höhepunkt der Niedecken-Major-Entfremdungsphase aufgenommen. Als er ihn seinen Kindern vorspielte, sagten die: "Vatter, das bist doch nicht du." Da wusste er, dass er für einmal den Scheiß mitgemacht hatte - und das war ihm eine Lehre.
Ökonomische Begrenzung
Es dürfte wohl klar sein, dass Wolfgang Niedecken sich als Menschen und Künstler sieht, der Image- und Trendberatern widerstanden hat, den Verlockungen der "Boulevardmedien", den Einflüsterern, die sein Feilen an der auf Heimat und Sprache fußenden Identität als ökonomische Begrenzung sahen und nicht als Sinn seines Lebens. Als jemand, der den Scheiß im Großen und Ganzen eben nicht mitgemacht hat. Das Lustige ist: Es stimmt vermutlich. Eine Zeit lang hatten Millionen den Eindruck, Niedecken erzähle die Geschichte ihrer Zeit. Vielleicht war das so. Im Grunde hat er immer seine eigene erzählt.
Die Haare leuchtend Grau, steht Wolfgang Niedecken im Leipziger Centraltheater. Der Beifall hat ihn auf die Bühne zurückgebracht. Er sieht zufrieden aus und sagt, er werde jetzt das "Opportunistischste" machen, was er überhaupt tun könne. Dann spielt und singt er "Verdamp lang her".
Was soll man sagen? Keine Stimme ist wie seine.
Nur Majors Gitarre fehlt.
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