Wohnen auf der Bühne : Die öffentliche Einsamkeit

Abwaschen im Bühnenbild: Kristo Sagor, Autor und Regisseur, erprobt im Bochumer "Theater unter Tage" verschiedene Aggregatzustände des Öffentlichen und des Privaten.

Das Tagebuch aus Sagors Neuen Heimat ist im Internet einsehbar. Bild: screenshot wohnenuntertage.de

Da will er jetzt also wohnen, für fünf Monate. Ein großes, rundes Loft ohne Tageslicht. In der Mitte ein zerwühltes Bett neben einem großen Schreibtisch, schreiende Tapetenmuster an den Wänden, Garderobe, unbenutzte Hausschuhe. An den Seiten die Küche und ein riesiges Regal mit Büchern, Bochumer Bürger haben sie gestiftet.

Ab nächster Woche kann man Kristo Sagor jederzeit im Bühnenbild besuchen, täglich zwischen 12 und 24 Uhr, man muss sich nur an der Pforte des Bochumer "Theaters unter Tage" anmelden - denn vielleicht schläft er gerade oder bloggt auf seiner Webseite www.wohnenuntertage.de. Bochumer sollen aus ihrem Leben erzählen, sie können sich mit Sagor zum Kochen verabreden oder an der Hausaufgabenbetreuung teilnehmen, es soll Lesungen, "Hausmusik" mit Bochumer Bands und Thementage über die Auswirkungen der ständigen Erreichbarkeit geben.

"Meine Wunschvorstellung ist, dass Zuschauer häufiger hier herkommen und verschiedene Aggregatzustände des Öffentlichen und Privaten erleben - an einem Tag kommt er zum Kochen und macht in der Bühnenküche den Abwasch, am anderen Tag kommt er zu einer Vorstellung und der Schauspieler holt eine Tasse aus genau demselben Schrank. Ich wünsche mir, dass Leute darüber nachdenken, welche Aktionsräume haben sie, was Definitionsgrenzen oder was Konventionen sind - und wie man sie durchbrechen kann", erzählt Sagor.

Man kann den mehrfach preisgekrönten 32-jährigen Regisseur und Autor, der soeben für den Theaterpreis "Faust" nominiert wurde, wohl als Arbeitstier bezeichnen: gleich zwei Premieren kommen im Abstand von nur einer Woche in seiner Regie in seiner neuen Wohnung zur Uraufführung. Gerade hatte er im Schauspielhaus Hamburg Premiere und jedes Jahr schreibt er ein neues Stück - zurückgezogen für zwei Wochen im Haus seines Vaters in Kroatien.

Die Uraufführung von Sagors Stücks "Der eigene Raum" ist der Auftakt seines öffentlichen Wohnexperiments. In einer Welt, in der Arbeit und Privates immer stärker ineinander übergehen, zelebriert Sagor die totale Verschmelzung von Öffentlichem und Privatsphäre, Realität und Kunst. Das Stück ist ein melancholischer Monolog eines einsamen "Übrigbleibers" nach dem Tod des Vaters, der "eigene Raum" liegt darin im Kopf von "Ich" oder auch Christian (Michael Lippold). Das kaum verschlüsselte Alter Ego des Autors und Regisseurs Sagor sitzt am Schreibtisch an einer Schreibmaschine aus dem vorigen Jahrhundert und tippt wie besessen, während ihn die Personen seiner Vergangenheit heimsuchen. Die fordernde Mutter, die magere Geliebte, der bodenständige, beste Freund Arne - abwechselnd dargestellt von Katja Hensel und Maximilian Strestik.

Die Rollen gleiten ineinander, oft nur durch ein Requisit angedeutet. Die Mutter stöckelt in Pelz und Lackpumps herbei und beschwert sich über Distanz, der Freund fragt ihn, warum er nicht weiterschreibt, die Exfreundin, ob er eine Neue hat, die Neue, warum er immer allein sein will. Es liegt ein schwebender, trauriger Ton über den Begegnungen. Denn Christian hat sich von der Welt losgesagt, ein isolierter Beziehungsloser, des eigenen Schmerzes überdrüssig, voller Weltekel: "du langweilst mich. mein schmerz langweilt mich." Tyrannisiert von eigenen Bildern und anderer Leute Vorwürfen, überfallen von Erinnerungen, verschanzt im eigenen Kopf.

Klug sind die poetischen Wortfetzen und Zeitspannen ineinander montiert, wiederholen sich, wechseln sich ab. Immer wieder setzt sich Christian an die Schreibmaschine oder erklärt seinem Nachhilfeschüler - der auch ein Alter Ego ist, ein kleiner blonder Junge in der gleichen Kleidung - das binäre Zahlensystem. Dann wieder liegt er blutüberströmt unter der Dusche und wird von den anderen entdeckt, oder der kleine Junge liegt da - man ist eben so viele Menschen und Zustände zugleich.

Es ist eine melancholische Selbstschau des Autors, die zwischen banaler Alltagssprache und poetischer Komplexität hin- und herschwenkt, immer wieder mit ironischen Selbstkommentaren versehen. Das ist beeindruckend, gleitet manchmal allerdings auch ins verschraubt Aphoristische ab: "dem Schweigen ist egal, wie viele worte davor lagen."

Und dennoch spricht die radikale Selbstschau davon, dass Einsamkeit wie Tod ist oder Tod wie Einsamkeit, dass der Rückzug in den Kopf Fantasieräume öffnen und Menschenbegegnungen schließen kann, dass das vermeintlich Öffentliche letztlich das Allerpersönlichste sein kann. Insofern sehr passend, dass der Autor ein so radikal persönliches Stück über den totalen, finalen Rückzug in sich selbst zum Auftakt eines Experiments über größtmögliche Öffentlichkeit macht. Ein Gerichtsverfahren in eigener Sache, eine Lebensbilanz von einer knappen Stunde - und letztlich die schönste Inszenierung des langen Bochumer Eröffnungswochenendes.

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